Bibliothek

Frauen und Mädchen- Bibliothek
Frauen und Mädchen-Bibliothek

Die Bibliothek wurde 1994 eingeweiht und wächst seit dem stetig an. Durch die kontinuierliche Arbeit konnte der Bestand der Frauen und Mädchen-Bibliothek auf über 4500 Bücher und Broschüren erweitert werden. Neben fast 900 Belletristikwerken (Romane, Erzählungen, Lyrik) ca. 350 Frauenbiografien und über 400 Krimis sind Lesben- und queere Literatur (Romane und Sachbücher) sowie 800 Sachbücher zur Frauengeschichte, Frauenbewegung und Frauen in der Gegenwart sowie Mädchenfachliteratur wichtige Schwerpunkte.

Neben Bestandspflege, Ausleihe und der Zusammenarbeit mit Frauenbuchverlagen gehört die Organisation von Lesungen zu den Haupttätigkeitsfeldern. In unserem Archiven befinden sich seit der Wende gesammelte Periodika der Frauenbewegungen.

Angebote der Frauen- und Mädchenbibliothek:

- Ausleihe
- Rechercheunterstützung (z.B. für Studierende)
- Frauen- und Lesbenzeitschriften
- Organisation von (Autor*innen-) Lesungen
- Kontakte zu Frauenbuchverlagen und anderen Verlagen
- Archiv für "Lilith" und andere Frauen- und Lesbenzeitschriften


Buchrezensionen von Dr. habil. Viola Schubert-Lehnhardt

Dozentin und Autorin zu Fragen von  Frauen- und Geschlechterforschung, Gesundheitspolitik und medizinischer Ethik, Herausgeberin  und Autorin zahlreicher  Bücher zu gesundheitspolitischen bzw. medizin-ethischen Themen, Vizepräsidentin der humanistischen Akademie Deutschlands e.V., Sprecherin der deutschen Mitglieder von Feminist Association of Bioethics-Mitglied des Arbeitskreises Frauengesundheit  in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.

Deike Wichmann Die Unbeirrbaren. Bonn 1949: Die Frauen des Grundgesetzes kämpfen um Gleichberechtigung aufbau taschenbuch 2023, ISBN 978-3-7466-3955-0, 335 S.


Ein toller Debüt-Roman der Pressereferentin Deike Wichmann, der gerade im 75. Jubiläumsjahr des Grundgesetzes besondere Aufmerksamkeit verdient. Beschäftigt er sich doch mit einem der wichtigsten Sätze dieses Dokuments „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Aus der Sicht einer Sekretärin, d.h. nicht irgendeiner, sondern der der SPD-Fraktion (im Buch Ilsa Klasing), wird der Kampf von vier Frauen, den vier „Müttern des Grundgesetzes“ um diese Textstelle erzählt. Insbesondere die Aktivitäten von Elisabeth Selbert werden ausführlich dargestellt – dankenswerterweise enthält das Buch sowohl eine Zeittafel als auch die Angaben zu den Originalquellen.

Das Buch nimmt uns außerdem mit in eine Zeit, in der ein Platz in einem Zimmer (nicht etwa eine Wohnung) mit einem halben Pfund Butter oder Äpfel und Birnen bezahlt wurde, ein Fahrrad ein Luxusgegenstand war, auch wenn es nur auf den Felgen gefahren werden konnte u.a.m.

Gleichzeitig beschreibt es die Entstehung der Freundschaft zwischen vier ungleichen Frauen, die es aushält, dass eine von ihnen ein uneheliches Kind zu versorgen hat - in der Nachkriegszeit sowohl ein Skandalon, als auch ein Problem im Familienrecht, das die vier Mütter des Grundgesetzes ebenfalls angegangen sind.

Das Buch leistet m.E. an Geschichtsvermittlung mehr wie ein trockener wissenschaftlicher Abriss, daher ist ihm eine große Leserschaft zu wünschen.


Jelena Kostjutschenko Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben. Aus dem Russischen von Maria Rajer Penguin Verlag München 2023, ISBN 978-3-328-60324-5, 412 S.


Jelana Kostjutschenko ist eine der bekanntesten Investigativjournalistinnen Russlands. Sie erzählt zunächst vom schwierigen Beginn ihrer Laufbahn als Siebzehnjährige bei der „Nowaja Gaseta“ und nimmt uns dann mit zu ihren diversen Recherchen in kleine abgelegene Dörfer, in Ruinen, in Gefängnisse, in einen Lesbenclub, auf einen CSD und andere gerade für eine Frau nicht ungefährliche Orte. Mit ihr begegnen wir Obdachlosen, minderjährigen Schwangeren, Drogendealern und ihren Opfern, kaum versorgten Kriegsveteranen und RenterInnen, sowie Angehörigen nationaler Minderheiten, die nicht nur aus ihren angestammten Siedlungsgebieten gewaltsam verdrängt wurden, sondern damit auch um jegliche Lebensperspektive gebracht wurden. Die Suizidrate unter ihnen, gerade bei Jugendlichen, ist entsprechend hoch. 

Diese Begegnungen sind für deutsche LeserInnen teilweise zutiefst verstörend, das Buch lässt sich daher auch nicht unbedingt „in einem Ritt“ lesen, gibt jedoch ein authentisches Zeugnis vom Zustand dieses Landes. „Moskau ist nicht Russland“ heißt eines der Kapitel. Um dieses Land trotzdem zu lieben, muss frau sicher dort geboren sein, das Buch jedoch gehört unbedingt zur Lektüre für alle, die sich mit Russland beschäftigen.


Ulrike Fuchs Reporterin für eine bessere Welt Piper Verlag München 2023, ISBN 978-3-492-06288-6 501 S.


Die Autorin nimmt uns mit in die sog. „neue Welt“ und zu den Schwierigkeiten, die MigrantInnen Ende des 19. Jahrhunderts hier bei ihrer Einreise ins gelobte Land, Amerika, erwarten. 

Zunächst kommt Nellie Bly jedoch als relativ gut situierte Dame mit dem Zug von Pittsburgh nach New York, um sich hier als Reporterin bei einer der großen Zeitungen zu bewerben. Erste Erfahrungen hat sie bereits bei der Pittsburgh Dispatch gesammelt, allerdings bis auf einen Bericht über ihre Mexiko-Reise war sie dort nur zu typischen Frauenthemen wie Gesellschaftsklatsch und Mode gefragt. Dies ist ihr nicht genug: zum einen möchte sie zur New York World, der damals bekanntesten und größten Zeitung, zum anderen über die wirklich wichtigen Themen schreiben. 

Doch schon ihre Ankunft in New York erweist sich als schwierig – ohne die Hilfe anderer Einwanderer hätte sie nicht nur am Bahnhof ihren Koffer verloren, sondern wahrscheinlich keine bezahlbare Unterkunft gefunden. Auch die Stellensuche ist weit komplizierter als gedacht: zunächst kommt sie nicht einmal an den Türstehern der großen Zeitungen vorbei und auch schriftliche Bewerbungen führen nicht zum Ziel. Erst recht abgelehnt wird ihr Vorschlag, als Ballonfahrerin eine Reportage zu schreiben. Dann bietet sie jedoch an, sich als „under cover Reporterin“ in die psychiatrische Anstalt auf Blackwell´s Island einweisen zu lassen und über die dortigen katastrophalen Zustände zu berichten. Dies wird ihr Einstieg als Reporterin bei der New York World und begründet ihren bis heute anhaltenden Ruf als exzellente Investigativjournalistin. Nicht nur die Reportage, sondern auch ein Buch über ihre Erlebnisse erscheint 1887 unter dem Titel „10 Tage im Irrenhaus“. Im Buch von Ulrike Fuchs werden diese erschütternden Erlebnisse leicht modifiziert wiedergegeben und erschüttern noch heute.

Das Buch endet leider mit ihrer Begegnung mit Joseph Pulitzer und dem sich daraus ergebenden Auftrag, die berühmte Reise „In 80 Tagen um die Welt“ als Frau nachzuvollziehen. Da ich diese Rezension an Weihnachten schreibe, äußere ich einen Wunsch: möge die Autorin eine Fortsetzung schreiben.


Stefanie Lohaus Stärker als Wut. Wie wir feministisch wurden und warum es nicht reicht. suhrkamp taschenbuch Berlin 2023, ISBN 978-3-518-47359-7, 227 S.


Bücher zur Geschichte des Feminismus gibt es einige, das Besondere am vorliegenden Buch ist, dass Stefanie Lohaus sie anhand der Etappen ihres Lebens beschreibt. Das heißt: in welchem Alter, hat sie was gelesen und gehört, wer und welche Debatten waren, aktuell, was wurde ausgeblendet. Das Ganze erfreulicherweise nicht nur aus westdeutscher Sicht, sondern unter Einbeziehung der jeweiligen Entwicklungen in der DDR. 

Weiterhin erläutert sie die beiden Denktraditionen des Feminismus, die zunächst unvereinbar schienen – den Gleichheits- und den Differenzfeminismus. Die Gleichheitsfeministinnen bezogen sich auf Simone de Beauvoir: ursächlich für die Differenz zwischen Frauen und Männern sei die soziale Situation. Alice Schwarzer und das Umfeld der von ihr gegründeten Emma betrachteten sich dagegen als Gleichheitsfeministinnen (s. S. 42ff). 

In ihrer Analyse der beiden Strömungen und der weiteren Entwicklungen arbeitet Stefanie Lohaus sowohl die jeweiligen Defizite heraus, insbesondere bei den Linken, als auch Gründe für ihre persönliche jedoch ebenso breitere Kreise dominierenden Fehleinschätzungen. Schwerpunkt dabei ist, warum immer wieder Generationen von Frauen der Überzeugung anhingen und (-hängen), die Zeiten der Frauenbewegung seien vorbei, es herrsche ein postfeministisches Zeitalter. Gleichzeitig geht sie immer wieder auf Versuche ein, die Spaltung der Generationen zu überwinden (insbesondere S. 188ff).

„Feministische Erinnerungskultur ist auch gesamtgesellschaftlich von großer Bedeutung“ (S. 244) – die Gründerin des Missy-Magazins hat mit vorliegendem Buch dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.


Jasmin Lörchner Nicht nur Heldinnen. 20 Frauen, die Geschichte schrieben. Herder Verlag Freiburg im Breisgau 2023, ISBN 978-3-451-03342-1, 222 S.


Die Journalistin Jasmin Lörchner nimmt uns mit in eine feministische Zeitreise – beginnend ca. 1500 v. Chr. mit der ägyptischen Herrscherin Hatschepsut bis ins Jahr 2000 – dem Todesjahr von Ruth Bader Ginsburg. Heldinnen faszinieren uns, doch nur ihre Geschichte(n) aufzuschreiben, würde weder der (Frauen)Geschichtsschreibung noch dem Feminismus gerecht. “Unseren Blick auf makellose Frauen zu verengen oder fragwürdige Aspekte in ihrer Biografie zu übersehen, ist nur eine neue Form, Frauen in eine Schublade zu drängen oder zu bevormunden“ schreibt die Autorin zu Recht in ihrem Vorwort. Denn damit würden Fehler wiederholt, die schon männliche Geschichtsschreiber gemacht hätten. Außerdem weitet sie den Blick über Europa und Amerika (den bevorzugten Blickwinkel der meisten Geschichtsschreiber) hinaus auf Afrika, die arabische Welt und Asien. Durch diesen erweiterten Horizont erfährt die LeserInnenschaft viel Neues nicht nur über die einzelnen Frauen, sondern auch ihre jeweiligen Gesellschaften. So lebte Alakhai aus der Mongolei (1191 – ca. 1230) in einem Reich, das den Frauen der Herrscherfamilien politische Teilhabe einräumte. Schon vor Dschingis Khan hatten Frauen vereinzelt politische und militärische Verantwortung übernommen, unter seiner Herrschaft nahm diese Entwicklung jedoch stetig zu, und er war es, der als einen der ersten Akte seiner Regierung sexuelle Gewalt gegen Frauen verbot.

Njinga aus dem heutigen Angola (1583 – 1663) wird sowohl als unerschütterliche Freiheitskämpferin wie auch als skrupellose Sklavenhändlerin beschrieben. Auch Zheng Yisao (1775 – 1844) war gefürchtete Piratin im südchinesischen Meer und zugleich die Frau, die nicht nur die Vergewaltigung von Gefangenen mit der Todesstrafe ahndete, sondern in Verhandlungen mit der Regierung Straffreiheit für ihre Gefolgschaft bei Auflösung ihrer Flotte durchsetzte.

Mary Ellen Pleasant (1814 – 1904) engagierte sich als schwarze Frau in den USA gegen Sklaverei; Margarete Steiff (1847 – 1909) setzte sich nicht nur als Betroffene gegen zahlreiche Vorurteile gegenüber Frauen (zumal behinderte) durch und gründete ein bis heute erfolgreich arbeitendes Unternehmen. Sie setzte sich auch aktiv für die Arbeitsbedingungen und gerechte Entlohnung ihrer Angestellten ein. Roberta Cowell (1918 – 2011) war die erste Frau, die sich in der Geschichte Großbritanniens einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog und andere Menschen zu diesem Schritt ermutigte. Margery Fry (1824 – 1958) setzte sich für die Reform des Strafrechts in Großbritannien ein; die Inupiak Ada Blackjack (1898 – 1983) war einzige Überlebende der Wrangelinsel-Expedition von 1921. Die polnische Krankenschwester Irena Sendler (1910 – 2008) rettete zahlreiche jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto. 

Nur einige der im Buch vorgestellten Frauen konnten hier genannt werden, weitere warten im Text (und mit ihren liebevollen Abbildungen) auf ihre LeserInnen.


Anne Schlüter, Uta C. Schmidt (Hrsg.) Frauenbewegungen und Feminismen im kulturellen Gedächtnis. Schwerpunkt der Zeitschrift Gender: Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 32023 15. Jahrgang – Vol. 15 Verlag Barbara Budrich, Leverkusen ISSN 1868-7245, 162 S.


Wiederholt wurde festgestellt, so die Herausgeberinnen, dass „kaum Erinnerungen an vergangene Frauenbewegungen und Feminismen in der hegemonialen Geschichtskultur existieren“. Insofern wird in den Beiträgen des Heftes der Frage nachgegangen, wie Frauenbewegungen und Feminismen ins kulturelle Gedächtnis kommen und wer um Erinnerungen an Leistungen des weiblichen Geschlechts kämpft.

Für mich erfreulich beginnt das Heft mit einem Beitrag zur Erinnerung an den deutsch-deutschen Einigungsprozess. Constanze Stutz plädiert „angesichts gegenwärtiger Herausforderungen, wie dem Erstarken antifeministischer Politiken sowie Fragen nach transnationaler Verknüpfung feministischer Kämpfe und Theoriebildungen für eine Verflechtungsgeschichte ost- und westdeutscher Frauenbewegungen als Gegenerzählung zu fortschrittsorientierten Verkürzungen der deutschen Frauenbewegungsgeschichte“ (S. 8). In der DDR und der BRD seien nach 1949 unterschiedliche Zugänge zu Erwerbstätigkeit und Mutterschaft und somit unterschiedliche Frauen- und Männerbilder entstanden. Allerdings habe auch die staatlich verordnete Gleichstellung in der DDR zu keiner verwirklichten Gleichstellung von Frauen und Männern geführt. Tradierte Rollenvorstellungen seien weder aufgehoben noch grundsätzlich in Frage gestellt worden, es hätte keine grundsätzliche Kritik an wirksamer struktureller Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gegeben, vielmehr eine gelebte Illusion einer Gleichstellung der Geschlechter.

Zlatiborka Popov-Momčinovic´ befasst sich in ihrem Beitrag mit Erinnerungen der Aktivistinnen in Bosnien und Herzegowina, Marie van Bömmel mit Debatten um die Ausstellung Künstlerinnen international. Seitens Barbara Schnalzger geht es um die Vernetzung der deutschsprachigen Lesben- bzw.Frauenarchive und -bibliotheken und Katharina Hugo und Rita Kronauer analysieren, wie Frauenbewegungen überhaupt in das kulturelle Gedächtnis gelangen.

Der offene Teil des Heftes befasst sich vor allem mit der Fürsorglichkeit zwischen Vätern und Söhnen, einem Thema, das bisher mit Daten aus Deutschland wenig beleuchtet wurde, bzw. generell mit caring masculinities (Fürsorglichkeit von Männern in Pflegeberufen). Hier zeige sich, dass durchgeführte care-Tätigkeiten häufig eher der Verschleierung eines hegemonialen Männerbildes dienen (männliche Pflegekräfte werden als kompetenter angesehen und häufig mit Ärzten verwechselt) und weniger einer Transformation von Rollenbildern dienten (s. Beitrag von Johanna M. Pangritz).


Bonnie Carmus Eine Frage der Chemie. Übersetzung aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann Piper Verlag München 2023, ISBN 978-3-492-07600-5, 480 S.


Der erste Roman von Bonnie Carmus hält einen in Atem und frau kann nicht genug kriegen von dem schwarzen Humor bzw. der Lebensklugheit seiner Protagonistin, der Chemikerin Elisabeth Zott und ihres Hundes Halbsieben. Als hätte die Autorin dies geahnt, hat sie uns zwei Bonuskapitel spendiert.

Bonnie Carmus erzählt aus dem Leben einer Chemikerin in einem Forschungslabor (scheinbar) im Jahr 1961 – viele Frauen in der Wissenschaft werden sich auch heute noch wiederfinden: bei Besprechungen als Sekretärin angesehen, mit weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen, sexistischen Übergriffen ausgesetzt etc. Schließlich seien die vorbestimmten Rollen für Frauen die von Mutter und Hausfrau.

Die Heldin des Romans setzt sich jedoch zur Wehr, verliebt sich leidenschaftlich und geht nicht nur unbeirrt ihren Weg, sondern ermutigt auch andere Frauen im Roman dazu. Gleichzeitig räumt sie auf mit bestimmten Klischees, z.B. das Kochen immer Spaß mache, dass man rasch noch einkaufen könne u.a.m.

Um finanziell überleben zu können moderiert sie zeitweilig mit großem Erfolg eine Kochsendung. Diese wird u.a. deshalb zum Strassenfeger, weil sie eben nicht nur kocht, sondern „von Atomen und Molekülen (spricht). Den wahren Regeln, die die physikalische Welt bewegen. Wenn Frauen diese grundlegenden Konzepte verstehen können sie allmählich die falschen Grenzen erkennen, die ihnen auferlegt worden sind“ (S. 391). Die Sendung ist „nicht bloß eine Einführung in die Chemie… Es ist dreißigminütiger fünfmal die Woche stattfindender Unterricht in Sachen Leben“ (S. 395), der sich letztlich auch dank der exzellenten Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann so amüsant liest.


Margaret Atwood Brennende Fragen. Essays und Gelegenheitsarbeiten von 2004-2021 Deutsch von Jan Schönherr, Eva Regul und Martina Tichy Berlin Verlag Berlin/München 2023, ISBN 978-3-8270-1473-3, 701 S.


Margaret Atwood ist vor allem durch ihre beiden Bücher „Report der Magd“ und „Die Zeuginnen“ hierzulande bekannt, deren Entstehungsgeschichte und Aufnahme durch das damalige und heutige Publikum im vorliegenden Buch mit thematisiert werden. „Brennende Fragen“ ist der dritte Sammelband mit Essays, der zeitlich die beiden vorangegangenen („Second Words“ und „Moving Targets“) fortsetzt. Schon der jetzige Titel soll darauf hinweisen, dass bestimmte, von ihr vorher schon angesprochene Probleme, aktueller denn je sind, insbesondere der weltweite Erhalt bzw. Herstellung von Demokratie. 

Weiterhin erlaubt uns dieser Band tiefe Einblicke in die Entstehungsgeschichte nicht nur ihrer Werke, sondern auch in diejenige vieler anderer AutorInnen (Alice Munroe – weitere s. Anhang zum Buch) zu denen sie Festreden und Willkommensadressen gehalten hat. Durch die detaillierte Beschreibung von teilweise in Deutschland weniger bekannter Werke bzw. AutorInnen gibt sie gleichzeitig zahlreiche Anregungen für weitere Lektüre.

Diese Würdigungen waren stets eng verknüpft mit Zustandsbeschreibungen zur Situation von Frauen, der Frauenbewegung bzw. SchriftstellerInnen als politische AkteurInnen. Aber auch Festreden zur Hundertjahrfeier der Fakultät für Forstwissenschaft und der damit verbundene Einsatz für den Erhalt von Bäumen, d.h. Natur tauchen auf, die Massey Lecture zum Thema Schulden, Auseinandersetzungen mit der Sklaverei und „Überbleibseln“des Kolonialismus.


Franziska Steinhauer Parkgeflüster Lausitz-Krimi Gmeiner Verlag Meßkirch 2023, 283 S.


Dieser Regionalkrimi spielt an zwei Schauplätzen, die erst auf den letzten Seiten des Buches zusammengeführt werden: ein Unfall mit Verhaftung unter widrigen Umständen in einem im Buch nicht näher bezeichneten Land und zwei Tötungsdelikte im Park Branitz. Zwischendurch viele Gespräche über Ehe und Familie bzw. Sentenzen über zwei Ehepaare, die trotz langer Freundschaft kaum etwas voneinander wissen. Über einige dieser Denksprüche lohnt sich längeres Nachdenken – so über den Satz „Im Alter ändert sich der Inhalt deiner Handtasche… statt Lippenstift und Schminktäschchen brauchst du Platz für Pfefferspray, Trillerpfeife und Buttersäureampullen“ (S. 163). 

Leider nutzt die Autorin (sie studierte Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Forensic Science and Engineering) das von ihr angestrebte Lokalkolorit nicht, um den Lesenden mehr über Fürst Pückler und den von ihm geplanten und umgesetzten Park zu erzählen. Auch das wunderschöne Coverbild seiner Grab-Pyramide wird nicht für die Handlung erschlossen. Die Handlung ist zweifellos spannend, Lokalkolorit vermittelt das Buch jedoch leider nicht.


Ines Thorn Töchter des Nordmeeres. Livs Weg Rowohlt Taschenbuchverlag Hamburg 2023, ISBN 978-3-499-01113-9, 383 S.


Der Roman führt uns nach Norwegen und ins Jahr 1876. In einer kalten Winternacht werden auf der kleinen Insel SmØla zwei neugeborene Mädchen ausgesetzt – das eine vor dem Gasthaus, das andere auf der Kirchenschwelle. Beide dort lebenden Frauen beschließen, die Kinder zu behalten und als ihre eigenen aufzuziehen. Die Mädchen betrachten sich als Schwestern und sind trotz ihres unterschiedlichen Naturells aufs innigste miteinander verbunden. 

Liv, die Protagonistin des Buches, schafft es trotz vieler Vorbehalte gegen „gebildete Frauen“ mit Unterstützung der Inselbewohner zunächst eine Prüfung abzulegen um dadurch die Möglichkeit für ein Studium zu erlangen. Durch eine Begegnung mit Friedtjof Nansen gelingt ihr als einer der ersten Frauen auch die Aufnahme eines Studiums – natürlich nicht nur belächelt, sondern vor allem auch gemobt durch ihre männlichen Mitstudenten. Sie setzt sich jedoch durch und entscheidet sich gegen eine Heirat um ihr Studium zu Ende führen zu können. Damit ist ihr weiterer Weg jedoch keinesfalls geebnet, denn im Norwegen des 19. Jahrhunderts will niemand eine Wissenschaftlerin anstellen…

Ihre Schwester Lucia dagegen geht den üblichen Weg einer damaligen norwegischen Frau: möglichst kurze Schulzeit um dann alles zu Lernen, was ein Mädchen für eine „gute Ehe“ braucht. Trotzdem verläuft auch ihr Weg keinesfalls rosig. Das vorliegende Buch gibt nicht nur einen guten Einblick auf das Leben in Norwegen, speziell auf einer kleinen Insel, zu dieser Zeit, sondern vor allem auch zu Lebenswegen von starken Frauen, die sich in einer Männerwelt behauptet haben.


Juliane Stadler König der Turniere. Historischer Roman Piper Verlag München 2023, 747 S.


Die Autorin studierte Frühgeschichte, Archäologie und Alte Geschichte und nimmt uns entsprechend mit in die Jahre 1181 bis 1183. Eine in der Innenseite des Buches abgebildete Landkarte erlaubt uns die damaligen Grenzen und Länderbezeichnungen nachzuvollziehen – ebenso hilfreich ist der im hinteren Teil eingefügte Stammbaum und das Glossar zu den historischen Begriffen.

Der Roman befasst sich im wesentlichen mit zwei Handlungssträngen – zum einen mit den damals üblichen Ritterturnieren, ihren Regeln und Abläufen (solche Schilderungen muss man mögen, um sie in dieser Ausgiebigkeit zu Lesen) – verbunden mit Siegen und Niederlagen des mittellosen Ritters Erec de Lacône. Zum anderen geht es um eine Intrige gegen den jungen König Henri bzw. dessen Marschall. Der historische Kontext wird sowohl im Buch, als auch im historischen Nachwort ausführlich erläutert.

Natürlich geht es auch um die Situation der sog. hochwohlgeborenen Frauen in dieser Zeit, die zwar Titel und repräsentative Attribute hatten, jedoch im wesentlichen von ihren Vätern strategisch verheiratet bzw. „verschenkt“ wurden. Dabei spielten Altersunterschiede oder gar Liebe keine Rolle. Im Roman berichtet die Hofdame Genoveva, dass sie als Trophäe für treue Dienste bzw. Entschädigung für dessenerlittene Schmerzen an einen jahrzehnte älteren Invaliden verheiratet wurde. Frauen wurden betrachtet als Erbenmütter, Bündnissiegel, politisches Unterpfand oder Zierat. Trotzdem gab es durchaus Versuche und Möglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben zu führen …

Spannend liest sich für uns heutige auch der Versuch der Kirchenvertreter dieser Zeit, die Ritter statt auf Turniere auf Kreuzzüge zu verpflichten. In diesem Zusammenhang werden auch die Ehrvorstellungen der sog. „Ritterlichkeit“ angeprangert, denn diese galten zwar im Kampf gegen andere Ritter, jedoch nicht gegenüber den Bauern, deren Land und Vorräte für die Durchführung der Turniere rücksichtslos benutzt wurde.


Starke Frauen in der Lichtenburg. Vom Renaissanceschloss sächsischer Kürfürstinnen zum Frauen-KZ Lichtenburg Mitteldeutscher Verlag Halle-Saale 2023, ISBN 978-3-96311-817-3, 2x 100 S.


Das Buch kann von 2 Seiten, d.h. von vorn oder von hinten, gelesen werden – einmal über die Kürfürstinnen, wenn frau es dreht über Häftlingsfrauen im KZ Lichtenburg. Schon der Beginn ist also eine schwierige Entscheidung, um so mehr, da Petra Reichenbach (Konzeption, Recherche, Gestaltung, Satz und Illustration) ein tolles Format und wunderschöne Illustrationen für jeden Teil gewählt hat. Beide Teile haben ein eigenes Vorwort (Elke Stolze und Elke Büdenbender) und zahlreiche Bilder und Fotografien, die nicht nur die Frauen der von ihnen gewählten Zeit, sondern auch die Lichtenburg dieser Zeit vorstellen. Womit also beginnen?

Ich habe mich für die historische Variante entschieden, also die Kurfürstinnen. Vorgestellt werden Elisabeth von Brandenburg, Anna von Sachsen, Hedwig von Dänemark, Anna Sophia von Dänemark, Wilhelmine Ernestine von der Pfalz. Es gibt jeweils Selbstzeugnisse (Auszüge aus Briefen) und Darstellungen zu ihrem Leben und Wirken, insbesondere auf der Lichtenburg. Durch zahlreiche Fotografien (von Matthias Ritzmann) sehen wir die Lichtenburg (vor allem die Frauengemächer) zumindest streckenweise mit ihren Augen. Auch ihre Kämpfe und Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Ehemännern, Zeitgenossen bzw. religiösen Vorurteilen ihrer Zeit werden uns plastisch vor Augen geführt. Sie nutzten die ihrer Zeit gemäßen Spielräume hochadliger Frauen, bestimmte Grenzen zu überschreiten. Schon das war Frauen anderer Schichten verwehrt, insbesondere bezüglich religiöser Toleranz.

Genauso anschaulich ist die spätere räumliche und inhaltliche Entwicklung zum ersten zentralen Frauenkonzentrationslager dokumentiert. 1415 weibliche Häftlinge wurden hier registriert. Die Lichtenburg war zu dieser Zeit ein Ort der Ausbildung von SS-Männern und Aufseherinnen. Damit wurde sie zu einem Ort, an dem systematischer Terror seinen Anfang nahm. Stellvertretend für die jeweiligen Häftlingsgruppen werden die Kommunistin Olga Benario, die Jüdin Lotti Huber, die Zeugin Jehovas Amalie Pellin, die Sinteza Waldfrieda Weiss und die Pazifistin Lina Haag.

Das gesamte Projekt, das sich auch in einer Multimedia-Installation auf der Lichtenburg wiederfindet, entstand durch ein Heimatstipendium des Landes Sachsen-Anhalt für Petra Reichenbach. Dem Land sei Dank für dieses Stipendium, der Inhaberin für die gelungene Nutzung! Die Leipziger Buchmesse ist dieses Jahr leider vorbei – für mich wäre es das schönste Buch des Jahres gewesen!


Eliza Reid Das Geheimnis der Sprakkar. Islands außergewöhnliche Frauen und wie sie die Welt verändern. Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shande btb Verlag München 2021/2022, ISBN 978-3-442-76233-0, 317 S.


Eliza Reid ist die First Lady Islands – und Journalistin, Lektorin und Mitbegründerin des jährlichen Iceland Writers Retreat. Das vorliegende Buch ist eine Liebeserklärung an Island und die Möglichkeiten, die es Frauen bietet. Die Autorin ist geborene Kanaderin und der Liebe wegen nach Island gezogen. Sie beschreibt ihre Erfahrungen als Migrantin, als Mutter, als Firmengründerin und als First Lady. 

Ihre Analysen der modernen isländischen Gesellschaft bettet sie ein in zahlreiche Mythen über isländische Frauen – die Sprakkar (altisländische Bezeichnung für außergewöhnliche oder herausragende Frauen). Ihre Begeisterung für das Land und die dort gegebenen Chancen für Frauen trüben ihr jedoch keinesfalls den Blick für nach wie vor bestehende Geschlechterdifferenzen und Erschwernisse. „Diese subarktische Insel ist kein Paradies für Frauen. Das Patriarchat ist stark und tief verwurzelt. So gibt es beispielsweise trotz eines Gesetzes zu Geschlechterquoten in den Aufsichtsräten zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Buch schreibe keinen weiblichen CEO in einem der Unternehmen, die an der Isländischen Börse gehandelt werden“ (S. 24).

Gleichwohl schätzt sie ein, dass Island reizvoll unperfekt sei, aber eine Gesellschaft habe, „die ständig daran arbeitet, sich zu verbessern“ (S. 33). Dies zeige sich vor allem in der Unterstützung für Menschen mit Kindern – nicht nur dass es genügend Kindergärten gibt, diese sind auch unentgeltlich, ebenso alles, was direkt mit Schwangerschaft und Geburt zusammenhängt; Freistellungen im „Babyjahr“ gibt es für Männer und Frauen im gleichen Umfang: das Stillen einer Tochter mitten in einer Parlamentssitzung durch die damalige Abgeordnete Unnur Brá Konrádsdóttir ist kein Thema, das die Nation spaltet – im Gegenteil. Immer wieder verweist sie auf zahlreiche Unterstützungsnetzwerke sowohl in den Familien (die meisten IsländerInnen sind schließlich mindestens entfernt miteinander verwandt) und durch bestimmte Organisationen. Zahlreiche Frauengruppen hat sie besucht und sich deren Geschichte und Wirkungsmöglichkeiten erzählen lassen. Jedoch vor allem Islands

Elternzeitprogramm betrachtet sie als einen Eckpfeiler der Herangehensweise an Gleichberechtigung (vgl. S. 49). „Da der Staat anstelle von privaten Unternehmen für die Kosten aufkommt, sind Frauen mit weniger Vorurteilen am Arbeitsplatz konfrontiert“ (S. 50).

Wichtig ist ihre Einschätzung, dass Island seine Position nicht nur dem puren Zufall verdankt, sondern historische und geografische Umstände ebenso eine Rolle spielen, wie Glück: „Unser Kleinsein ist eine Stärke. Im globalen Kontext sind wir kein riesiger Tanker, sondern eher ein winziges Schnellboot. Da lässt sich Veränderung leichter fordern, implementieren und messen… „(S. 286). Die fehlende Größe macht es jedoch nur scheinbar schwierig, internationale Vergleiche anzustellen – Eliza Reid verweist mehrfach auf die Möglichkeit, Statistiken an Hand von pro Kopf Zahlen zu interpretieren (so sei Island das Land mit den meisten Literaturnobelpreisträgern – pro Kopf – s. S. 22) …

Der schönste Satz der Autorin ist für mich „Ich bin nicht die Handtasche meines Mannes“ (S. 260) – er drückt sowohl das Selbstbewusstsein dieser First Lady aus, als auch die Haltung breiter Kreise Islands. Für mich ist dieses Buch schon jetzt das Buch des Jahres!


Kitchen Politics (Hg.) Die Neuordnung der Küchen. Materialistisch-feministische Entwürfe eines besseren Zusammenlebens. edition assamblage Münster 2023, ISBN 978-3-96042-157-3, 187 S.


Das Buch enthält einen Beitrag von Felicita Reuschling (Kunstpädagogin und Kuratorin, die sich in ihren Arbeiten u.a. mit utopischen Vorstellungen über Familie und reproduktive Arbeit befasst hat) weitere zu ihrem Gedenken sowie einen neu übersetzten Text von Alexandra Kollontai, der weltweit ersten Diplomatin, Leiterin des Volkskommissariats für soziale Fürsorge in der jungen Sowjetunion und Schriftstellerin zum Thema Kommunismus, Entwicklung der Familie und freie Liebe.

„Wie wir wohnen und leben wollen“ ist der erste Abschnitt überschrieben, der das Erbe feministischer Denker*innen aufgreift – vor allem nach der russischen Oktoberrevolution und im „Roten Wien“ der 20er Jahre. Die Gedanken und Texte zur Sowjetunion beziehen sich dabei nicht nur auf Frauen aus Gebieten des heutigen Russlands, sondern auch (in Deutschland weniger bekannt und diskutiert) auf Überlegungen von Tschuwasch*innen, Tschuktsch*innen, Usbek*innen und Ukrainer*innen. Deren Ansätze zur Umgestaltung der Gesellschaft bezogen sich nicht nur auf die radikale Neugestaltung und Reorganisation jedweder Arbeit in Form und Inhalt, sondern auch auf die Neugestaltung von Küchen und Wohnungen sowie der Sexualität (s. S. 13). Hier schließt der Text von Alexandra Kollontai an, dessen verschiedene editorische Ausgaben und Übersetzungen zunächst erläutert werden. Sehr interessant liest sich dann dazu ein Gespräch am „virtuellen Küchentisch“ vom Februar 2021 mit jungen Frauen aus verschiedenen Ländern, die diesen historischen Text gemeinsam interpretieren, kritisieren und für heutige Überlegungen fruchtbar machen. Die Spannung ergibt sich aus den damals fortschrittlichen Ideen, der Analyse von Ursachen für deren Scheitern und den Möglichkeiten anderer Anwendungen. 

Der Beitrag von Michel Raab dokumentiert in Bild und Schrift ein Narkomfin-Kommunehaus (als Wohnhaus für Beschäftigte des sowjetischen Finanzministeriums 1928 erbaut). Die 54 Wohneinheiten hatten keine eigene Küche, stattdessen gab es gemeinschaftliche Räume für Essen, Kochen, Wäscherei, Kinderversorgung etc. (s. S. 118). Die Kleinfamilie sollte zugunsten einer umfassenden Kollektivierung der ganzen Gesellschaft abgeschafft werden, bereits 1936 wurden solche Ansätze wie weitere progressive familienpolitische Gesetze (einfache Möglichkeit zur Scheidung, Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen) jedoch zugunsten für die Reproduktion „optimalerer“ Familienmodelle zurückgenommen. Die Idee einer gemeinsamen Küche hat in der Sowjetunion jedoch bis zu deren Zusammenbruch die Wohngestaltung der „kommunalkas“ geprägt.

Ähnliche Wohnmodelle werden von Veronica Duma für das „Rote Wien“ der 20er Jahre beschrieben: die Sozialdemokratie hatte bei Gemeinderatswahlen die absolute Mehrheit gewonnen und ermöglichte neben vielen anderen progressiven Gesetzen vor allem den sozialen Wohnungsbau. Das Scheitern dieser weit darüber hinaus gehenden sozialpolitischen Entwicklungen war vor allem durch das in den 30er Jahren erfolgte Erstarken reaktionärer Parteien in Österreich bedingt. Bis heute hat sich jedoch in Wien nicht nur die Idee, sondern auch die Praxis preisgünstigen Wohnens erhalten. Wienbesucher*innen können die entsprechenden Wohnhäuser leicht an den angebrachten Tafeln erkennen, die Auskunft dazu geben, seit wann diese Häuser bereits als kommunales Eigentum existieren.

Im Buch vorstellt werden auch die Ideen der 68er zu neuen Wohn- und Lebensformen sowie eine feministische Perspektive für Berlin heute.


Franka Frei Überfälllig. Warum Verhütung auch Männersache ist Wilhelm Goldmann Verlag München 2023, ISBN 9783-442-31700-4, 285 S.


Die Journalistin und Menstruationsaktivistin Franka Frei ist auf Grund ihrer hartnäckigen Recherchen, Publikationen und Engagements gegen männliche Dominanz und Vorurteile inzwischen Mitglied einer Gruppe von Expert:innen aus den Bereichen Umweltschutz, Migration, Friedens- und Konfliktforschung sowie Kultur- und Bildungspolitik, welches Leitlinien für eine feministische Außenpolitik erarbeiten soll. Die „unübersehbare globalpolitische Relevanz von Themen wie Verhütung und Menstruation wurde in Anbetracht multipler sich zuspitzender Krisen nun endlich in den obersten Stock des Regierungsgebäudes katapultiert“ (S. 220).

Dem Buch vorangestellt ist eine Warnung, dass es in ihm um „Diskriminierung auf Grund des Geschlechts, der sexuellen Identität, der Herkunft und der körperlichen Fähigkeiten gehen wird – traurig, dass eine solche Vorankündigung in einem angeblich so aufgeklärtem und demokratischen Land wie Deutschland notwendig ist – gleichwohl verweist dies umso mehr auf die Brisanz des Buches!

Es beginnt mit der Geschichte der Verhütung, in der aufgezeigt wird, wie es dazu kam, dass aus einem antiken Wissen und Zugängen zu Verhütung und Abtreibung über die Jahrhunderten eine Praxis entstehen konnte, die Frauen als Hexen auf den Scheiterhaufen bzw. in Gefängnisse brachte. Dabei wird auch auf koloniale Praktiken bzw. historische und aktuelle Versuche von Bevölkerungskontrolle eingegangen. Ikonen der feministischen Bewegung wie Marie Stopes und Margaret Sanger werden dabei ein Stück von ihrem Sockel geholt – Stopes sei bekennende Eugenikerin gewesen (s. S. 63) und auch Sanger sei Befürworterin der „Rassenhygiene“ gewesen und habe vielfach Vorträge vor Frauengruppen des Ku-Klux-Klans gehalten (s. S. 65).

Im weiteren geht die Autorin der Frage nach, wie feministisch eigentlich die Pille sei – siehe deren jahrelang nicht zur Kenntnis genommene und kaum explizit erforschten Nebenwirkungen (und wenn Forschung, dann häufig an nicht weißen, jüdischen oder als psychisch krank kategorisierten Frauen s. S. 72). Hinzu käme, dass insbesondere ab dem 20. Jahrhundert Familienplanungstechnologien nur zum Teil als feministische Befreiungsstrategien anzusehen seien, sondern gleichzeitig immer auch als Unterdrückungsinstrument.

Ebenso beschreibt sie Untersuchungen bzw. individuelle Ansätze zu Verhütungsmethoden für Männer – meist gescheitert daran, dass bestimmte Nebenwirkungen oder Praktiken (z.B. Spritzen) Männern nicht zumutbar seien, abtörnend oder schlicht finanziell uninteressant. 

Spannend zu lesen sind diese Fakten nicht nur durch ihre eingestreuten persönlichen Geschichten mit eigenen Erfahrungen und Treffen von anderen Protagonist:innen, sondern auch durch ihren subtilen Humor. Beispiel: „Männer, die Verhütungsunterhosen tragen? Wie abstrus! Frauen mit Periodenunterwäsche: normal (aber bitte behaltet es für euch)“ (S. 172).


Cathrin Moeller Todesklinge. Akademie des Verbrechens Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg 2023, ISBN 978-3-499-01008-8, 542 S.


Um es vorweg zu nehmen: für mich ist der Thriller von Cathrin Moeller schon jetzt der Krimi des Jahres! Spannung pur bis zur letzten Seite – durch immer neue Verwicklungen und Wendungen!

Auf der Insel Rügen wurden bereits 5 Jahre vor Beginn der Handlung mehrere drapierte Mädchenleichen gefunden – jetzt erneut, obwohl der Mörder scheinbar gefasst ist und durch zahlreiche Indizien eindeutig überführt wurde. Der damalige leitende Ermittler ist allerdings inzwischen aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden und arbeitet an einer Polizeiakademie als Dozent, wo er sog. „cold cases“ mit seinen StudentInnen analysiert. Gleichzeitig kämpft er um die Adoption des Sohnes seiner ermordeten Kollegin. Damit es geht mal wieder um die Vereinbarkeit von Polizeiarbeit und Kindererziehung. Hier jedoch dadurch sehr spannend, dass das Kind am Aspergersyndrom leidet und daher stets einen strengen Zeitplan aufstellt und auf dessen Einhaltung besteht. Sehr einfühlsam und anschaulich beschreibt die Autorin die Innenwelt der von dieser Krankheit Betroffenen und die dadurch entstehenden Herausforderungen für andere. Sie ermöglicht uns einen Einblick in eine andere Welt ohne belehrend und moralisierend zu wirken. 

Für den Ex-Kommissar Henry Zornik kommt erschwerend hinzu, dass er sich eine Mitschuld am Tod seiner Kollegin gibt, und er wird auch noch von einer ehemaligen Geliebten gestalkt, die gleichfalls als Mörderin in Frage kommt…

Durch die Beschreibung der Lehrtätigkeit an der Polizeiakademie veranschaulicht Cathrin Möller die Vorgehensweise bei Ermittlungen – verweist auf mögliche Zweifel und Irrwege und auch auf die unter KriminalistInnen vorhandenen Eifersüchteleien und Kontroversen. Das gut beschriebene Inselflair trägt ebenfalls zum Lesegenuss bei


Susanne Popp Das Erbe der Teehändlerin. Die Ronnefeldt Saga Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2023, ISBN 978-3-596-70762-1, 459 S.


Ronnefeldt Tee kann mensch noch immer kaufen, obwohl die Geschichte dieser Hamburger Kaufmannsfamilie bereits 200 Jahre alt ist. Insofern umfasst die Saga auch 3 Bände, deren dritter nun vorliegt. 

Im ersten Band erleben wir den Geschäftsaufbau durch Tobias Ronnefeldt, der sich dann auf eine ausgedehnte China-Reise begibt. Dadurch erfahren wir viel über den Teeanbau zu einer Zeit, in der dieses Geheimnis von den Chinesen noch gut gehütet wurde und auf den Schmuggel von Samen oder Setzlingen die Todesstrafe gestanden hätte. Gleichfalls thematisiert werden am Beispiel seiner Frau Friederike die Schwierigkeiten der damaligen Zeit für das weibliche Geschlecht, die Geschäfte des Mannes in dessen Abwesenheit oder nach einem Todesfall weiterzuführen. 

Im zweiten Band geht es um die verschiedenen Entwicklungswege der Kinder des Paares, im dritten um die der Enkel. Hindurch ziehen sich nicht nur diverse Liebesgeschichten und Irrwege, sondern auch zeithistorische Möglichkeiten für Bildung und Emanzipation der Frau. 

Gleichfalls thematisiert werden die Geschehnisse um die Revolution von 1848, der damals schon in Deutschland vorhandene Judenhass und die damit verbundenen Auswanderungen vieler Deutscher in die USA. Ein Teil der Schilderungen des dritten Bandes befasst sich daher mit den katastrophalen Zuständen in der Hamburger Auswanderungsszene bzw. auf den Schiffen sowie dann in den USA.

Ausführlich beschrieben werden immer wieder die verschiedenen Teesorten, ihre Mischungen und Zubereitungsart bzw. die unterschiedlichen Möglichkeiten des Teegenusses (pur oder mit Zucker und Sahne). Auch hier werden die LeserInnen inspiriert Neues auszuprobieren und sich so gleichzeitig auf den Lese- und Teegenuss einzulassen. 


Kitchen Politics (Hg.) Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit. edition assamblage Münster 2021, ISBN 978-3-96042-110-8, 141 S.


Das Buch enthält einen Grundlagentext von Loretta J. Ross, die zusammen mit 11 weiteren Frauen 1994 auf einer pro-choice-Konferenz in Chicago das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit entwickelte. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Kritik an der mehrheitlich weiß geprägten feministischen main-stream-Bewegung. In dieser stand vor allem das Recht auf 

Abtreibung bzw. seine Entkriminalisierung im Mittelpunkt. Andere Formen reproduktiver Unterdrückung, von denen vor allem People of Colour bzw. Menschen in marginalisierten communties betroffen sind, blieben unberücksichtigt. Die 12 schwarzen Frauen kritisierten diesen einseitigen Blickwinkel und die Vorrangstellung des Rechtes auf Abtreibung – ohne die Notwendigkeit des Kampfes um dieses Recht zu leugnen. Sie entwickelten zunächst drei zentrale Grundsätze: 1. das Recht, sich für Kinder zu entscheiden und die Formen der Schwangerschaftsversorgung und Geburtshilfe selbstbestimmt wählen zu können; 2. das Recht, keine Kinder zu bekommen und sicheren Zugang zu Verhütungs- und Abtreibungsmöglichkeiten zu haben; 3. das Recht, Kinder in selbstgewählten Umständen aufzuziehen – frei von institutioneller, struktureller und interpersoneller Gewalt sowie unter guten sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Bedingungen. 2012 fügten jüngere Aktivistinnen einen vierten hinzu: das Menschenrecht auf sexuelle Autonomie, geschlechtliche Selbstbestimmung und sexuelle Lust. Im Text der Broschüre wird gezeigt, welche Probleme es bei der Umsetzung dieser vier Aspekte auch in Europa (z.B. Verbot des Schwangerschaftsabbruches in Polen; Verbot der Änderung des Geschlechtseintrages in Ungarn) und in Deutschland gibt. Von den vielen im Text genannten Beispielen sei nur auf einige

verwiesen: Verweigerung der Untersuchung von Frauen nach 

Vergewaltigung in zwei kath. Krankenhäusern (2013); der Hartz IV-Regelsatz bzw. das Bürgergeld geht von 17.02 Euro (2021/22) für Gesundheitsleistungen im Monat aus, diese Summe erlaubt weder die Pille noch eine Spirale als Verhütungsmethode; das Menschenrecht auf Familienzusammenführung wird im Rahmen von Migrationsbürokratien oft missachtet u.a.m. Dazu führen im Buch Personen aus verschiedenen Netzwerken weitere Beispiele und ihre Kämpfe dagegen an.


Dörte Schipper Das Dorf der Frauen. In Loheland suchten sie die Freiheit und fanden ihr Glück Piper Verlag GmbH München 2022, ISBN 978-3-492-06351-7, 410 S.


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es weder selbstverständlich, dass Frauen in Wohngemeinschaften leben, noch dass sie einen Beruf ausüben – vor allem wenn sie aus sog. „gutem Hause“ stammten. Es kam zwar vereinzelt durchaus vor, aber dass wie hier in Loheland gleich eine ganze Siedlung gegründet wird, die bis heute erfolgreich existiert, war doch ein Novum, dem sich die  Autorin zunächst in einem Dokumentarfilm und nun auch in einem Roman gewidmet hat.

Sie nimmt uns mit in die Anfänge dieser Dorfgemeinschaft von Künstlerinnen und Handwerkerinnen und in eine Zeit, in der diese Pionierinnen von der umwohnenden Landbevölkerung teilweise noch als Hexen bezeichnet und mit Steinen beworfen wurden. Sie sind zwar für die Menschen in der Gegend eine zusätzliche willkommene Einnahmequelle, gleichzeitig bringen sie deren Welt(bild) durcheinander.

Im Roman aufgezeigt werden die unterschiedlichen Wege von Frauen in diese Gemeinschaft, ihre Schwierigkeiten und Erfolge, Freundschaften und Feindschaften, Missgunst und Hilfe untereinander. Viele von ihnen wollen wie Hanna, eine der Protagonistinnen im Roman, der erdrückenden Bürgerlichkeit entkommen, andere werden von ihren Eltern auf diesen Weg gebracht. Alle legen mit ihrem Korsett auch bisherige Lebensgewohnheiten und Wertvorstellungen ab. Diese Veränderungen bisher starrer Denk- und Lebensmuster reicht bis in die Architektur der von ihnen entworfenen und gebauten Gebäude – mit geschwungenen Flächen und ovalen Rundungen, denn auch in Wald und Flur gäbe es keine rechten Winkel. Es gibt auch keinen Ballettsaal mit Spiegeln und Stangen, sondern die Tanzübungen finden barfuß auf der Erde statt. Leitmotiv ist die von ihnen propagierte und gelebte Veränderung des Bestehenden – nicht das bloße kritisieren. 

Ihren Lebensunterhalt verdienen sie mit ihren Auftritten bzw. künstlerischen Arbeiten sowie mit der von ihnen betriebenen Landwirtschaft. „Nein, wir hatten und haben keine Gönner, wir haben Mut zum Risiko und kämpfen uns hartnäckig durch alle Tiefen“ antwortet Eva, eine andere Loheländerin, im Buch einem Journalisten (S. 370).


Wer angeregt durch das Buch mehr über diese Gemeinschaft erfahren möchte sei auf den Sendungslink von Elke Prinz hingewiesen - Frauenleben vom  21.01.2023: mp3.radiocorax.de/mp3/027_FrauenLeben/2023_01_21_Frauenlebenlohland.mp3


Karen Sander Der Strand. Vergessen. Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2023, ISBN 978-3-499-00806-1, 380 S.


Erfreulich ist, dass alle drei Bände dieser Erzählung um den Hauptkommissar Tom Engelhardt und die LKA-Kryptologin Mascha Krieger kurz hintereinander im gleichen Jahr erschienen sind und so die LeserInnen nicht zu lange auf die Auflösung diverser Rätsel und Verwicklungen im Fall um die verschwundene gehörlose Lilli Sternberg warten mussten. Während im zweiten Band („Am Strand. Verraten“) am Anfang kurz die Ent- und Verwicklungen des ersten Teiles zusammengefasst wurden, fehlt dies vorliegendem dritten Band. Die Bezüge zu den beiden ersten Bänden sind relativ knapp gehalten, so dass es für Lesende nur des dritten Bandes schwierig sein könnte, sich in alle Bemerkungen und Entscheidungen des Ermittlerteams hinein zu denken. 

Zusammen mit diesem Fall klären die beiden ProtagonistInnen jedoch letztendlich auch den zwei Jahrzehnte vorher stattgefundenen Mord an Lillis Mutter auf und damit sind alle Fragen gelöst. Die Autorin verspricht uns jedoch in ihrer Schlussbemerkung, dass es weitere Fälle für Tom Engelhardt und Mascha Krieger geben wird; darauf können wir gespannt sein.


Karen Sander Der Strand. Verraten. Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2023, ISBN 978-3-499-00807-8, 376 S.


Im zweiten Band dieser Triologie treffen wir den alleinerziehenden Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt und die Kryptologin Mascha Krieger wieder. Scheinbar war im ersten Teil dieser Reihe 

das Verschwinden und der Tod der gehörlosen Lilli aufgeklärt, doch die beiden ErmittlerInnen hatten ihre Zweifel und wollen weiter machen. Für LeserInnen, die den ersten Band nicht kennen, fassen die beiden zu Beginn des Buches ihre bisherigen Ergebnisse kurz zusammen, so dass sich auch die neu hinzugekommene Leserschaft gut in den Plot einfinden kann. Dieser kurze Rückblick auf den ersten Band ist sehr gelungen und integrativ in den Handlungsablauf eingebaut – endlich mal eine Variante, die nicht so bemüht daherkommt, wie in vielen anderen Fortsetzungsreihen. Super!

Entsprechend des Buchtitels gibt es wieder eine Leiche am Strand, aber es ist nicht die gesuchte Lilli. Und es gibt jede Menge weitere düstere Geheimnisse - so das um eine Frau, die sich selbst mehrfach in die Psychiatrie einweist, verschwindet und gleichsam unmotiviert auf Kriminalhauptkommissar Tom Engelhardt schießt. Dieser hat ohnehin wieder Probleme, als alleinerziehender Vater und auch die Auseinandersetzungen zwischen der Kryptologin Mascha Krieger und ihrem Bruder sind noch nicht ausgestanden. Auch eine neue mysteriöse sms taucht auf, die zwar entschlüsselt, aber nicht gedeutet werden kann. Spannung ist also garantiert – beim Lesen dieses Bandes und beim Warten auf den abschließenden dritten Teil!


Karen Sander Der Strand. Vermisst. Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2023, ISBN 978-3-499-00805-4, 380 S.


Statt eines Nachworts gibt es in diesem Buch eine Zwischenbemerkung, denn die Geschichte um die verschwundene gehörlose junge Frau Lilli ist mit diesem Buch nicht zu Ende – obwohl scheinbar ein Täter gefunden wurde.

Der Thriller Karen Sanders, die über die britische Autorin Val McDermid promoviert hat, spielt auf der Halbinsel Darß-Zingst in einem fiktiven Ort, ungefähr dort wo Prerow liegt, es soll aber nicht Prerow sein. Thematisiert werden wohltuenderweise mal nicht die Eigenheiten der Küstenbewohner und es gibt auch nicht das gängige Kompetenzgerangel zwischen einzelnen Abteilungen und Zuständigkeiten. Trotzdem ist die Gemengelage schwierig, die Kriminalpolizeiinspektion ist in Anklam, die Rechtsmedizin in Greifswald, die Spurenauswertung findet im LKA nahe Schwerin statt (soweit alles real), das ermittelnde Polizeirevier liegt im fiktiven Ort Sellnitz. 

Probleme zwischen den Ermittlern gibt es jedoch durchaus , da z.B. die Kryptologin Mascha Krieger um ihre Karriere kämpfen muss und plötzlich ihren ungeliebten Bruder vor die Nase gesetzt bekommt. Sowohl dieses Familiengeheimnis als auch andere im Buch unerklärte Verhaltensweisen einzelner involvierter Personen bleiben bis zum Schluss offen – schließlich soll es noch zwei weitere Bände geben.

Gleichfalls vom üblichen Schema abweichend ist das Motiv Alleinerziehend – Job ohne feste Arbeitszeiten: hier ist es nicht die Mutter, sondern der Vater, der diese Konstellation meistern muss.

Die Spannung der Handlung ergibt sich zum einen aus immer mal wieder auftauchenden verschlüsselten Botschaften an eine Freundin der Vermissten, die auf eigene Faust recherchiert und ein in diesem Band unaufgeklärtes Motiv hat, ihr 800 Euro teures Handy lieber in einem Tümpel zu versenken, als der Polizei zur Auswertung zu übergeben, als auch aus den problematischen Verhältnissen verschiedener Personen zueinander. Insofern darf die Leserschaft auf die Fortsetzung gespannt sein! 


Micaela A. Gabriel: Die Frauen vom Reichstag. Schritte in eine neue Welt. Rowohlt Verlag Hamburg, 2023 ISBN 978-3-499-00684-5, 397 Seiten 


Dieser dritte Band der Reihe „Die Frauen vom Reichstag“ widmet sich dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte – der Zeit des Nationalsozialismus. Dem Text vorangestellt ist ein Gedenken an die Frauen der SPD, die „der einzigen Fraktion des Parlaments (angehörten), die sich gegen Hitler stellte“ und „geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz (stimmten). Sie bezahlten für ihren Mut mit Haft, Misshandlung, Flucht oder gar Tod“ (S. 5). Leider fehlt an dieser Stelle der Hinweis, dass die Abgeordneten der KPD zu dieser Abstimmung wegen bereits erfolgter Verhaftung oder Flucht schon nicht mehr erscheinen konnten. Ohnehin wird im Buch eine damals noch mögliche Zusammenarbeit von KPD und SPD zur Verhinderung des Hitler-Regimes von vornherein als ausgeschlossen dargestellt, Angehörige der KPD werden mehrfach als mutmaßliche Verräter dargestellt. Das ist m.E. eine einseitige Darstellung. 

Uns begegnen die aus den ersten beiden Bänden bekannten Protagonistinnen Marlene von Runstedt und ihre Freundin Sophie Maytrott. Erstere muss nicht nur wegen ihres Status als Abgeordnete der SPD im Reichstag fliehen, sondern auch wegen ihres Einsatzes für Arbeiterfrauen in mehreren Gerichtsprozessen. Wir erleben ihre Flucht über viele Stationen und die damit verbunden Schwierigkeiten, sowie ihre Bemühungen, dass Leben ihres jüdischen Ehemannes sowie ihres „halbjüdischen“ Patenkindes zu retten. 

Ihre Freundin Sophie Maytrott leitet zu dieser Zeit ein Jugendheim bei Berlin, das von Schließung bzw. „Gleichschaltung“ bedroht ist. Letzteres würde nicht nur ein völlig anderes Erziehungskonzept beinhalten, vor allem aber wäre ein Verstecken vieler jüdischer Mädchen und Jungen nicht mehr möglich.

Beide Frauen finden starke Verbündete bei anderen ehemaligen Abgeordneten, denen allen die Autorin mit der vorliegenden Reihe ein würdiges Denkmal gesetzt hat! Schade, dass mit Band 3 für uns LeserInnen das Ende dieser spannenden Lebensgeschichten gekommen ist – oder vielleicht doch nicht?


Denise Herrmann mit Taufig Khalil Zielsicher. Mein langer Lauf an die Biathlon-Spitze Edel Verlagsgruppe GmbH Hamburg 2022 978-3-98588-018-8, 264 Seiten. 


Zusammen mit dem Sportreporter Taufig Khalil möchte uns die Biathletin Denise Herrmann Faszination dieser Sportart nahebringen. Dies ist ihr zweifellos gelungen. Die Olympiasiegerin Denise Herrmann beschreibt ihre Anfänge als Langläuferin, Trainingsorte und -methoden, Erfolge und Rückschläge und das Ringen um die Entscheidung, zum Biathlon zu wechseln. 

Die Geschichte dieser Sportart seit dem 18. Jahrhundert wird ebenso erwähnt, wie der Anteil der am Erfolg mit beteiligten Berufsgruppen (Trainer, Techniker, Physiotherapeuten) – und natürlich die Team-KollegInnen beim Training und an der Strecke. Die Beliebtheit gerade dieser Wintersportart resultiert ihres Erachtens daraus, dass hier so schnell viel passieren kann - eben noch Führende haben sich am Schießstand plötzlich „rausgeschossen“, schlechte SchützInnen können auf der Strecke durchaus Boden gut machen. Ausführlich geht sie darauf ein, welche Rolle die Geräuschkulisse für die AthletInnen spielt – bzw. deren Fehlen während der Corona-Pandemie.

Sehr knapp gehalten sind dagegen ihre Überlegungen zu solchen Themen wie: Menschenrechte am Austragungsort, Klimaschutz oder Gigantomanie bei der Errichtung von Sportstätten, die nach den Wettkämpfen nicht mehr genutzt werden. Hier schreibt sie, dass sie das Gefühl hatte „Sportler sollten (ausbaden), was Politik und Wirtschaft nicht tun wollten“ (S. 84) bzw. „Ich war dreimal bei Olympia dabei, Sotschi, Pyeongchang und Peking. Immer gab es Umwelt- und politische Diskussionen. Themen mit denen sich Sportler nur bedingt auskennen … Wir haben aber viele Jahre auf dieses Ereignis hingearbeitet und dem alles untergeordnet. Die Entscheidung heißt also auch: Tue ich, was ich liebe, wofür ich jahrelang geschuftet habe, oder … lasse ich mir das jetzt von anderen miesreden“ (S. 241). Hier bleiben beide AutorInnen hinter ihren Möglichkeiten zurück – wer, wenn nicht die SportlerInnen bzw. ReporterInnen, sehen diese Anlagen (für deren Bau gerade in China Menschen aus ihren Wohnungen ohne Kompensation vertrieben wurden) und können sich dazu äußern bzw. für eine Veränderung der Sportpolitik einsetzen? Sicher haben die AthletInnen derzeit kein Mitspracherecht in diesen Fragen - aber dies liese sich ändern – wenn SportlerInnen aller beteiligten Länder sich gemeinsam dafür einsetzen würden. Gewiss ein weiter Weg – jedoch gerade in Bezug auf Gespräche mit Menschen aus anderen Nationen lässt uns Denise Herrmann nur wissen, mit wem sie befreundet ist und welche Partys sie gefeiert haben… Hier liegt für mich eine Schwachstelle des Buches – denn warum sollten sich Menschen in Deutschland, die auch täglich in anderen Berufen acht Stunden arbeiten, Kinder und Haushalt versorgen etc. mit den genannten Themen so viel besser auskennen? Politik ist zu wichtig, um sie allein den PolitikerInnen zu überlassen!

Da Denise Herrmann nach wie vor auf der Piste ist und uns hoffentlich weiter begeistern wird, sind ihr nicht nur weitere Siege zu wünschen, sondern es bleibt auch zu hoffen, dass sie bei einer weiteren Auflage des Buches hier deutlichere Worte findet.

Am Tag, an dem ich diese Rezension schreibe, wird Denise Herrmann in Oberhof Weltmeisterin im Sprint. Herzlichen Glückwunsch! und: weiter so!


Rebecca Donner Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff, Sabine Franke und Erich Ammereller Kanon Verlag Berlin 2022 978-3-98568-047-4, 613 Seiten.

 

Die Amerikanerin Mildred Harnack war die Urgroßtante der Autorin, über deren Schicksal in den USA kaum berichtet wurde und das wenige passend zum kalten Krieg häufig auch noch falsch. Rebecca Donner findet vernichtet geglaubte Briefe Mildreds, die zum Ausgangspunkt für ihre Recherchen und das vorliegende Buch werden. Sie schreibt, dass es zwei Erzählungen folge: „Die eine berichtet über Mildred, die andere von einem Jungen namens Don“ (S. 14) – ihrem Kurier. Doch der vorliegende Band enthält viel mehr: umfangreiches Material über Freunde, Bekannte, andere KämpferInnen, deren Motive für den Widerstand, die Geschichte ihrer Verhaftungen und Urteile, den Kriegsverlauf und Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg hinsichtlich des Umgangs mit Akten und Kriegsverbrechern.

Das Spionageabwehrkorps der U.S. Army leitete nach dem 2. Weltkrieg zunächst eine Ermittlung ein. „Mildred Harnacks Taten sind lobenswert“ merkte ein Beamter des Abwehrkorps 1946 an und wies auf die ´recht ausführliche Akte´ hin, die der Nachrichtendienst über sie besaß. `Es ist durchaus wahrscheinlich, dass eine Ermittlung ein Kriegsverbrechen enthüllen wird` schrieb ein anderer. Ein Kollege höheren Ranges rügte die beiden später“ … und stufte den Fall als geheim ein. Er hätte niemals zur Ermittlung herangezogen werden dürfen. 

„Entfernen Sie den Fall aus der Einheit… und setzen Sie die Ermittlung nicht fort“ lautete seine Anweisung (vgl. S. 19). Damit fehlten jahrelang wichtige Archivunterlagen. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer kamen sie wieder zum Vorschein, ihre Auswertung und Aufarbeitung dauert noch an.

Rebecca Donner hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Zunächst nimmt sie uns mit in Zeit des Kennenlernens von Mildred und Arvid, ihre Liebe, ihre Hochzeit und die Übersiedlung nach Berlin. Mildred unterrichtet hier an einer völlig neuen Art von Schule, dem Berliner Abendgymnasium, das seine Pforten für die Arbeiterklasse geöffnet hat. Fabrikarbeiter, Elektriker, Bauarbeiter und Büroangestellte sitzen an den Tischen. Mildreds Unterricht geht weit über die Vermittlung der englischen Sprache hinaus, sie spricht mit ihnen über Werke der Literatur, Philosophie und Politikwissenschaften. Später wird sie die SchülerInnen in Cafe´s und zu sich nach Haus einladen und aus den zunächst losen Treffen wird eine Widerstandsgruppe entstehen. 

Das Buch ist gleichfalls dem 11-jährigen Kurier von Mildred Harnack gewidmet – Don (Donald Junior) Heath, der nach seinen Unterrichtsstunden bei ihr (die Schule, die er bis dahin besuchte, war geschlossen wurden, da unter jüdischer Leitung) Nachrichten an seinen Vater, den Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft in Berlin, mit nach Hause nimmt. Dieser war es, der im Wesentlichen die Auslandsspionage der USA in Deutschland aufbaute. Bis dahin, so die Autorin, hätten die Vereinigten Staaten lediglich „einen Mischmasch“ an Behörden besessen, zwischen denen es so gut wie keinen Austausch gegeben hätte (vgl. S. 312).

Das Buch bietet faszinierende Einblicke nicht nur in das Leben von Mildred Harnack, sondern auch in die Arbeit der Geheimdienste verschiedener Länder während und nach dem 2. Weltkrieg, vor allem aber würdigt es die mühevolle Arbeit und das stille Heldentum vieler Menschen.


Felicia Otten Die Landärztin. Band 1: Aufbruch in ein neues Leben. Band 1 Blanvalet München 2022, ISBN 978-3-7341-1041-2, 555 S. Band 2: Der Weg ins Ungewisse. München 2022, ISBN 978-3-7341-1042-9, 522 S.


Zu Beginn des Romans muss sich die junge Ärztin Thea Graven entscheiden – für ihre Karriere oder die Aufdeckung eines Kunstfehlers ihres Chefs, einem gefürchteten Professor an einer renommierten Hamburger Klinik. Wie der Titel des Buches verrät, entscheidet sie sich für letzteres und landet in einem Dorf in der Eifel, wo sie misstrauisch beäugt wird – als Zugezogene sowieso und noch dazu als Ärztin. Einige Dorfbewohner weigern sich, sich von ihr behandeln zu lassen, andere verleumden sie bzw. stehen ihr mindestens misstrauisch gegenüber. Und ihr zukünftiger Chef hat nicht nur jede Menge Eigenheiten und Geheimnisse, er akzeptiert sie überhaupt erst nach einer gemeinsam erfolgreich durchgeführten Geburtshilfe.

Die Erzählung lässt uns miterleben, wie Thea Graven sich mühsam das Vertrauen der Dorfbewohner erringt, aber auch welchen Widrigkeiten das Leben eines Arztes auf dem Dorf ausgesetzt ist – noch dazu, wenn dieses vom Schmuggel lebt…

Auch für medizinische Laien verständlich werden die eingeschränkten medizinischen Möglichkeiten nach dem zweiten Weltkrieg beschrieben – sowohl durch die allgemeine Notlage der Bevölkerung (große Teile besaßen keine Krankenversicherung) als auch durch noch nicht bekannte oder fehlende Behandlungsmethoden.

Der zweite Band kommt zunächst ganz romantisch-idyllisch daher mit Hochzeitsvorbereitungen. Dann steckt sich Dr. Thea Graven jedoch mit Kinderlähmung an und verliert nicht nur ihren Lebensmut, sondern scheinbar auch die Liebe ihres Lebens. Als Tochter eines Professors ist sie jedoch Privatpatientin und hat als solche eine Reihe von Freiheiten. Dadurch ist es ihr möglich, die Kinderstation in der sie behandelnden Klinik zu besuchen und sie ist entsetzt über die dort herrschenden Zustände. Nicht nur, dass man der allgemeinen Ansicht dieser Zeit folgend meint, seelische Folgen von Erkrankungen nicht behandeln zu müssen, es gibt zudem jede Menge Grausamkeiten gegenüber den kleinen PatienInnen. Wie die Autorin an Hand von ehemaligen Betroffenen recherchiert hat, wurden auf manchen Stationen die Kinder geschlagen, mussten Erbrochenes wieder aufessen und bei Elektrotherapien wurde der Strom so stark eingestellt, dass er zu Verbrennungen führte. Das Buch schildert die unzureichenden Kenntnisse zu dieser Erkrankung und ihren Behandlungsmethoden in den 50er Jahren sowie den bis heute andauernden Kampf zwischen der Schulmedizin und alternativen Heilmethoden.

Natürlich kommt die Liebe nicht zu kurz – sowohl Theas als auch die ihrer beiden Schwestern. Das Verhältnis der Schwestern zueinander und zu ihrem Vater ist ebenfalls nicht unproblematisch – am Ende klärt sich in guter Romantradition jedoch alles.


Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis. Piper Verlag 2023 ISBN 978-3-492-06270-1, 332 Seiten. 


Agnes Imhof nimmt uns in ihrem Buch aus der Reihe „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“ mit nach Grönland und in eine Zeit, in der große Entdeckungen und wissenschaftliche Leistungen (scheinbar) nur den Männern vorbehalten waren. Doch 1890 beschließt Josephine Peary, mit ihrem Mann zusammen auf dem Walfangschiff Kite nach Grönland zu reisen und bereits ein Jahr später setzt sie diesen Entschluss in die Tat um. Ihr Mann unterstützte dieses Vorhaben keineswegs selbstlos oder aus Liebe zu seiner Frau, bescherte ihm doch erst ihre Mitfahrt eine breite Aufmerksamkeit und damit die notwendigen Mittel für die von ihm geplante Reise.

Frauen wurden Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts zu ähnlichen Abenteuern nur mitgenommen, um „die Zivilisation zu wahren“, zu putzen und zu kochen. Josephine erkennt dies schmerzlich, geht jedoch durchaus ihren eigenen Weg. Dieser ist nicht nur ein steiniger in Auseinandersetzung mit der Männergesellschaft ihrer Zeit, sondern auch mit dem ihr anerzogenem Blickwinkel auf die Inuit. Glaubt sie sich doch diesen zivilisatorisch überlegen und macht sich zunächst weder Gedanken darüber, ob sie in diesem Land überhaupt willkommen sind, noch ob ihre Lebensweise die „bessere“ ist. Da sie jedoch über die Menschen, ihre Sitten und Bräuche schreiben will, lernst sie nicht nur deren Sprache, sondern ist durchaus bereit, bestimmte Dinge auszuprobieren und anzuerkennen. Es ist für sie ein schmerzlicher Prozess - insbesondere in Auseinandersetzung mit Arnakittoq, einer Inuk, die sie nicht nur häufig belächelt, sondern die ihr auch unmissverständlich den Spiegel vorhält: „Sie haben nichts zum Tauschen. Sie können nicht mit einem anderen schlafen, selbst wenn sie es wollen. Und so wie ich die Sache sehe, sind Sie auch niemand, der Entscheidungen trifft, sondern Sie kochen und putzen für die Männer, so wie Ihr Diener Matt. Und Sie glauben, Sie sind zivilisiert?“ (S. 157). Gerade am Beispiel des schwarzen Dieners Matt begreift Josephine, dass die von ihr hochgelobte Verfassung der USA, die scheinbar allen die Freiheit gibt, eben doch nicht für alle gilt und ihre Weltsicht von vielen haltlosen Vorurteilen geprägt ist. 

Das Buch beschreibt sowohl sehr anschaulich das damalige Weltverständnis und den Ehrgeiz von Männern, den Nordpol zu entdecken, als auch die Lebenswelt der Inuit und vor allem aber den Weg einer bewundernswerten Frau.


Anja Marschall. Töchter der Speicherstadt, Der Duft von Kaffeeblüten (Teil 1) Gelesen von Felicity Grist Hörbuch Hamburg HHV GmbH, Hamburg 2022 14 Stunden 29 Minuten

 

Die Brasilianerin Maria entschließt sich zur Heirat mit einem reichen Hamburger Kaffeehändler, um die Kaffeeplantage ihrer Familie vor dem Verkauf zu retten. Dieser heiratet sie nicht nur aus ökonomischen Erwägungen, sondern ist durchaus in die hübsche junge Frau verliebt. Doch seine alteingesessene Hamburger Kaufmannsfamilie ist mit der  Heirat keinesfalls einverstanden und macht der jungen Frau das Leben in Hamburg schwer. Trotzdem setzt sie sich, nicht zuletzt dank ihrer profunden Kenntnisse über Kaffee, in der Hamburger Gesellschaft durch und gewinnt Freunde.

Dann jedoch verdrängt ihr Schwager mit einer Intrige ihren Mann aus dem Haus und dem Kaffeehandel. Und es beginnt der erste Weltkrieg und damit die Seeblockade Englands gegen deutsche Häfen…

Die nun als Hörbuch vorliegende Erzählung nimmt uns mit in die faszinierende Welt der Speicherstadt und die Denkmodelle der 

Hamburger Kaufleute („Geschäft geht vor Politik“). Gleichzeitig erfährt die Hörerschaft (oder diejenigen, die die Buchform vorziehen) viel über Kaffee, seinen Anbau und die Zubereitung. So sollte guter Kaffee ohne Zucker und Sahne getrunken werden… Probiert es aus und wartet dabei gespannt auf die Fortsetzung dieser tollen Geschichte!


Rosie Clarke Shop Girls. Aufbruch in ein neues Leben. Bastei Lübbe AG Köln 2022, ISBN 978-3-404-18590-0, 412 S.


Die Autorin nimmt uns mit ins London von 1912 und die Eröffnung eines neuen Kaufhauses. Mehrere Mädchen bewerben sich als Verkäuferin und im Buch wird erzählt, wie sie sich untereinander und ihre neue Aufgabe kennenlernen.

Alle von uns kennen ein Kaufhaus – die wenigsten dürften jedoch wissen, wie es bei einer Erstausstattung zugeht, welche Regeln damals für VerkäuferInnen galten, wie die Auswahl der Waren erfolgt etc. Rosie Clark schrieb nicht nur eine faszinierende Geschichte über die Sitten der damaligen Zeit, vor allem vermittelt sie anschaulich die Gefühle der jungen Mädchen – vor allem ihre Hingabe ans Verkaufen. Einkaufen lieben wir sicher alle, aber auch verkaufen? Sie lässt uns den Spaß und die Freude ihrer vier Protagonistinnen am Auspacken, Dekorieren und Präsentieren miterleben und so in eine unbekannte Welt eintauchen. 

Was waren das für Zeiten, als Schaufenster zunächst verhängt, zu einem festgesetzten Zeitpunkt dem Publikum gezeigt und dieses lange vorher anstand, um einen Platz in der ersten Reihe zu erhaschen!

Gleichzeitig nimmt die Autorin uns mit in die Wohnsituation in „old England“ und zeigt die Schwierigkeiten für alleinstehende Frauen eine angemessene Unterkunft zu finden. Ebenso beschrieben wird die Not ungewollt schwangerer Frauen und der Gang zu einer „Engelmacherin“.

In die Erzählung fließt auch der Untergang der Titanic mit ein – und seine Auswirkungen auf die Hinterbliebenen. Rundherum eine gelungene Geschichte – von der frau sich nur eines wünscht: eine Fortsetzung!


Karin Aleksander, Ulrike E. Auga, Elisaveta Dvorakk, Kathleen Heft, Gabriele Jähnert, Heike Schimkat (Hrsg.): Feministische Visionen vor und nach 1989. Geschlecht, Medien und Aktivismen in der DDR, BRD und im östlichen Europa. Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin, Toronto 2022, ISBN 978-3-8474-2521-2, 432 S.


Das Buch enthält zum einen Texte einer vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin 2019 veranstalteten Tagung „Feministische Visionen vor/nach 1989. Einmischen – Gestalten – Provozieren“, zum anderen weitere extra für diesen Band eingeworbene Artikel. Mit dem Buch wird an gleichnamige Publikationen angeknüpft, die bereits zum 10- und 20-jährigen Jubiläum des Zentrums herausgegeben wurden. Die Beiträge reflektieren nicht nur die Entwicklung 30 Jahre nach Maueröffnung und deutscher Einheit, sondern gehen auch auf Transformationsprozesse bzw. Gender Studies in Tschechien, der Ukraine und Ungarn ein.

Das Buch gliedert sich in vier Teile: 1. Widerstand – Aktivismus – Visionen; 2. Ostdeutsche Fremd- und Selbstzuschreibungen; 3. Verwobene, intersektionale Macht- und Herrschaftsverhältnisse und 4. Etablierung der Gender Studies in und nach Umbrüchen von 1989. Vielfach erzählen dabei nicht später geborene Forschende über ihre Ergebnisse, sondern die jeweiligen Protagonistinnen selbst. Heute teilweise nicht mehr vorhandene Gruppierungen aus dieser Umbruchzeit werden vorgestellt sowie deren Diskussionsschwerpunkte, Aktivitäten und Publikationen. Schon von daher ist das vorliegende Buch eine Fundgrube für ansonsten mühsam zu recherchierende Texte und Konstellationen in diesen Prozessen. Leider wird das Lesen durch die sehr enge Drucklegung und teilweise extrem kleine Schrift (8-Punkte bei Zitaten) sehr erschwert.

Doch weiter mit den positiven Aspekten dieses Werkes: Bereits in der Einleitung wird durch die Herausgeberinnen darauf verwiesen, dass sich bisherige Analysen zum einen häufig durch Geschlechtsblindheit ausgezeichnet hätten, insbesondere fehle meist der Topos „Ostmann“ (insbesondere der Topos Vaterschaft in Ostdeutschland sei eine Leerstelle), vor allem aber befassen sich die meisten Forschungen und Darstellungen ausschließlich mit deutschen Personen, d. h. persönliche Erinnerungen, Betrachtungen zur Situation von Migrantinnen bzw. nicht-weißen deutschen Staatsbürger:innen fehlen völlig. Rassismus wird daher zu Recht als „Leerstelle deutscher Frauenbewegungen“ bezeichnet (S. 52 ff.).  Sowohl hierzu, als auch bei der Analyse der Flüchtlingskrise 2015–2020 schließt das Buch Lücken. Erhellend ist hierzu der Beitrag von Ilanga Mwaungulu „Schwarze Schwester Angela“ (S. 279 ff.), der analysiert, wie Angela Davis in der DDR als Identifikationsfigur aufgebaut wurde und welche Weiblichkeitsnormen diese Strategie prägten. Die Autorin zitiert dazu einen Text aus der führenden Frauenzeitschrift der DDR Für Dich: „Angela Davis ist von schwarzer Hautfarbe, und wir nennen sie Schwester. Sie ist Amerikanerin, uns ist sie Freundin. Sie ist Kommunistin – unsere Genossin. Im weltweiten Klassenkampf stehen wir mit ihr auf der gleichen Seite“ und merkt dazu an: “Hier werden zwei Gegensatzpaare gebildet. Obwohl Davis Schwarz ist, nennen „wir“ sie Schwester. Und obwohl sie Amerikanerin ist, ist sie „uns“ Freundin. Diese Gegensatzpaare ergeben nur dann einen Sinn, wenn das „wir“ als weiß und deutsch vorgestellt wird“ (S. 287). Auch J. Cash Hauke analysiert in ihrem Beitrag den Slogan „Wir sind das Volk“, und das sich daraus entwickelnde Begehren nach ostdeutschen Gefühlen bei AfD und Pegida. Wer ist „das Volk“ und wer ist ausgeschlossen?

Kern bleibt jedoch die Untersuchung von Visionen, Möglichkeiten und Enttäuschungen weiblicher Personen – angefangen bei eher marginalen Gruppierungen in einzelnen Regionen, bis hin zu weiblichen Staatsoberhäuptern. Beurteilt wird dabei die These vom „Modernisierungsvorschub ostdeutscher Frauen“ ebenso, wie die Unfähigkeit des gegenwärtigen Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes gegen Diskriminierung als „Ossi“ vorzugehen. Doris Liebscher geht in ihrem Kapitel ausführlich auf die Schwierigkeit ein, „die Benachteiligung Ostdeutscher antidiskriminierungsrechtlich zu erfassen“ (S. 315 ff.). Ebenso interessant ist der Beitrag von Kathleen Heft zum Thema „Warum passieren solche Sachen immer im Osten?“, zur Berichterstattung in den Medien, und das dokumentierte Gespräch von Urmila Goel, mit nachwendegeborenen Studierenden, zum Grund für ihre Entscheidung sich mit dem Thema Osten bzw. DDR in Bachelor- und Masterarbeiten zu befassen.

Auf die Fortsetzung der Veranstaltungen und damit verbundenen weiteren Publikationen zum 40. Jahrestag, darf die Leserschaft schon jetzt gespannt sein.



Annette Fabiani: Die Champagnerfürstin. Goldmann Verlag München 2022, ISBN 978-3-442-49268-8, 520 Seiten.


Dieser Roman ist nicht nur die Geschichte zweier großen Lieben zu Männern, sondern auch der Liebe zum Champagner. Erzählt wird nicht nur, wie zwei Witwen zu verschiedenen Zeiten, das Geschäft ihres Mannes übernehmen mussten und gegen alle Widerstände weiterführten, sondern auch wie sich die Verarbeitung von Wein zu Champagner und dessen Vertrieb, über die Jahrhunderte entwickelt haben. Einiges wurde durch Zufall entdeckt, anderes war das Ergebnis jahrelanger mühevoller Experimente. Das Nachwort und die angegebene verwendete Literatur gestatten es einer speziell daran interessierten Leserschaft diese Details weiter zu vertiefen.

Beide Protagonistinnen, Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin und Jeanne-Alexandrine Pommery, haben im Roman wie im Leben jedoch nicht nur mit den Widrigkeiten der Konkurrenz und der Ablehnung durch einen Teil der sogenannten „feinen Gesellschaft“ zu kämpfen, sondern vor allem auch mit der wiederholten Besetzung der Stadt Reims durch wechselnde Heere, in den Kriegen von 1840 und 1870. Beide Frauen bewiesen Mut gegenüber den jeweiligen Besatzern bzw. Einquartierungen – teilweise half ihnen jedoch auch der bereits bis Russland bekannte Name ihres Champagners. Jeanne Pommery z. B. erreicht die Freilassung des Bürgermeisters Dr. Henri Henrot und wurde daher als erste Frau in Frankreich mit einem Staatsbegräbnis geehrt.

Interessant in dieser Erzählung sind nicht nur zahlreiche historische Details zu Kleiderordnung, Begräbnisritualen etc., sondern auch die Beschreibungen der Handlungsreisenden über zunächst den Wein- später den Champagnerverkauf in diversen Ländern. In England z. B. galt er lange Zeit als „Damengetränk“, da er ursprünglich nur in süßer Form hergestellt wurde. Erst diese in den Augen seiner Herstellerin Herabwürdigung des edlen Getränkes führt dazu, dass Jeanne Pommery den trockenen Champagner (brut) erfand, um damit den britischen und amerikanischen Markt zu erobern.

Lesen Sie also diesen Roman am besten mit einem Glas Champagner – zur Not alkoholfrei – aber lesen Sie ihn unbedingt!


Miriam Georg: Das Tor zur Welt. Hoffnung. Rowohlt Verlag Hamburg, 2022, ISBN 978-3-499-00854-0, 653 S.


Die Autorin schreibt hier laut Cover die Geschichte zweier Frauen (der arm in einem Moordorf geborenen Ava und der in einem reichen Haushalt geborenen Claire) weiter fort. Eingebettet ist diese, wie schon im ersten Band, in eine weit(schweifige) Darstellung der Not und Armut auf abgelegenen Dörfern Deutschlands, sowie in der Stadt Hamburg. Bis zur Mitte des Buches tauchen beide Frauen kaum auf, das Buch ist hier eher ein zeitgeschichtliches Dokument zur Situation Ende des 19. Jahrhunderts in Europa, die zur Auswanderung von Tausenden Menschen geführt hat. Entsprechend ausführlich werden die Situation in der übervölkerten Stadt Hamburg und inzwischen ebenso in der Ballin-Stadt beschrieben. Die eigens zur Vorbereitung auf die Auswanderung eingerichteten Unterkünfte reichen nicht mehr aus, abgetakelte Schiffe werden notdürftig als Ausweichquartiere wieder hergerichtet – mit allen gesundheitlichen Konsequenzen für die dort einquartierten Menschen (vor allem Seuchen durch Ungeziefer und Ratten auf Grund unzureichender Desinfektion der Schiffe). 

Zur Beschreibung dieser Situation gehören Darstellungen der damaligen Methoden von Krankenbehandlungen ebenso wie die Schilderung damaliger Methoden der Kriminalistik. Diese muss sich nicht nur mit den üblichen Delikten befassen, sondern im Buch insbesondere auch mit Fahrkartenbetrug für die Auswandererschiffe bzw. den leeren Versprechungen von Agenten für diese. Dargestellt werden die verschiedenen Motive für Auswanderungen und dadurch entstandene Besonderheiten wie z.B. die „kalte Scheidung“ (ein Ehepartner wandert unter Zurücklassung des anderen aus). Häufig traf dieses Schicksal auch Kinder – die im Buch jedoch mildtätige Menschen finden, die sich ihrer annehmen. Dies dürfte in den seltensten Fällen so vorgekommen sein.

Insgesamt liest sich dieser 2. Band auf Grund zahlreicher Rückblenden schwieriger als der erste. Erst als Ava und Claire wieder in den Mittelpunkt der Darstellung rücken wird der Roman als Lebensgeschichte zweier unterschiedlicher Frauen wieder flüssiger. obwohl auch hier die letztlich gefundene Lösung eher in Hollywood-Manier gewählt wurde und wenig realistisch erscheint.

Gleichwohl liest sich das Buch ab der Mitte spannend und klärt offen gebliebene Fragen aus dem ersten Band auf.


Nadine Pungs: Nicht Mutter sein. Von der Entscheidung, ohne Kinder zu leben.  Piper Verlag GmbH, München 2022, 237 Seiten 


Die Autorin möchte nicht Mutter sein – und begründet diese Entscheidung vor ihren FreundInnen und LeserInnen. Gleichzeitig setzt sie sich damit auseinander, dass ein solcher Entschluss in unserer multikulturellen Gesellschaft überhaupt begründet werden muss. Eine Ursache dafür sieht sie darin, dass, gerade weil sich die Gesellschaft so rasant verändert habe und klassische Rollenmuster hinterfragt würden, „ein fast überwunden geglaubtes Bedürfnis nach eindeutigen Geschlechterverhältnissen wieder auf(flackert)“ (S. 16).

Mit den Büchern von Orna Donath „Regretting motherhood“ (2016) und von Verena Brunschweiger „Kinderfrei statt kinderlos. Ein Manifest“ (2019) hat die Debatte im In- und Ausland Fahrt aufgenommen. Es entstanden Plattformen und child-free-Bewegungen und „Four Nos“ (no dating, no sex, no marriage, no children). Parallel dazu reißen die Vorurteile und Vorwürfe gegenüber kinderlosen Frauen nicht ab – kinderlose Männer sind jedoch davon ausgenommen. NB: Schon das Wort „Vaterglück“ fehlt im Duden (vgl. S. 23).

Das Buch ist der Versuch der Autorin, ihr Nichtmuttersein gleichrangig neben dem Muttersein aufzustellen und so „das Bewußtsein für diese Form der Selbstermächtigung im sozialen Diskurs zu etablieren… Denn Nichtmuttersein ist politisch“ (S. 20). Sie geht dazu auf historische Entwicklungen durch die Jahrhunderte ein – statistisch gesehen hätten im Mittelalter so viele Paare keinen Nachwuchs bekommen wie heute (vgl. S. 58) und auf Antinatalismus in neuerer Zeit.

Weiterhin setzt sie sich mit Schwierigkeiten, in Deutschland einen Termin für einen Schwangerschaftsabbruch zu bekommen, auseinander, beschreibt und begründet ihren eigenen und spricht damit auch aktuelle Debatten um die Paragrafen 218 und 219a in Deutschland an. 


Pierre Martin: Madame le Commissaire und die Villa der Frauen. Ein Provence-Krimi. 

Knaur Verlag München 2022, ISBN 978-3-426-52674-3, 378 Seiten


Die Kommissarin Isabelle Bonnet ermittelt zum nunmehr neunten Male in dem idyllischen provenzalischen Ort Fragolin. Zur Zeit ihrer ersten Ermittlung (2014) gab es im Französischen weder die Berufsbezeichnungen Madame la Président oder Madame la Ministre. Inzwischen hat sich das zwar in Frankreich wie in anderen Ländern auch geändert – der Autor hat sich jedoch für die Beibehaltung des Reihentitels entschieden. In einem vorangegangen Band äußert sich Isabelle gegenüber ihrem Assistenten Apollinaire zu diesem Thema (im Buch „Madame le Commissaire und der tote Liebhaber“) und betont, dass sie sich nicht diskriminiert fühlt.

Die Gespräche zwischen Isabelle und Apollinaire wären an sich schon lesenswert, der Krimi ist es erst recht. Isabelle hat mit anderen zusammen ein Projekt initiiert: ein Haus zur Erholung von vor häuslicher Gewalt geflüchteten Frauen und Kindern. Zunächst läuft es gut an, doch dann verschwindet erst eine Frau mit ihrem Sohn, dann wird eine weitere tot aufgefunden. Isabelle muss also nicht nur einen Mörder und ein Kind finden, sie fürchtet auch um die weitere Existenz des gerade erst angelaufenen Projektes.

Das vorliegende Buch ist mehr als ein Krimi – es setzt sich auch mit einem gesellschaftlichen Problem auseinander, welches in vielen Ländern noch seiner Lösung harrt. Dem Autor gelingt es jedoch ohne erhobenen Zeigefinger und langatmiges Moralisieren das Thema zu beschreiben und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Gleichzeitig liest sich der Text auf Grund seiner liebevollen Beschreibungen von Land und Leuten, insbesondere dem mit Eigenheiten reich gesegneten Assistenten Apollinaire

sehr leicht und spannend. Natürlich darf auch die Liebe mit ihren ganz eigenen Verwicklungen und Schwierigkeiten nicht fehlen – mehr wird jedoch nicht verraten.



Rebekka Eder: Der Duft von Zimt. Historischer Roman, Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-499-00833-7, 526 Seiten 


Der Roman spielt 1812 in Hamburg, zur Zeit der französischen Besetzung der Stadt. Während die Bevölkerung darbt und friert, wird Schmuggelware, vor allem Zucker und Baumwolle“, vor den Augen der hungernden Einwohner:innen öffentlich verbrannt. Auch Thielemanns Backhus, in dem die junge Josephine zusammen mit ihrem Onkel arbeitet, hat kaum noch Zutaten um etwas herstellen zu können. Konditoreiwaren sind schon lange mangels Zutaten unmöglich geworden und selbst für Brot gibt es kaum noch Rohstoffe.

Da bekommt ihr Onkel ein Angebot, zusammen mit ihr nach Altona zu ziehen und zu arbeiten. Doch Josephine will das Backhus nicht verlassen und bekommt Unterstützung durch Menschen aus ihrer Straße, die Zimt und Zucker schmuggeln. Bald duftet die ganze Straße nach „Franzbrötchen“. Die Autorin greift hier die Legende von der Entstehung dieses Gebäcks auf, die ihr „die liebste ist“. Sie ist fasziniert von diesem Backwerk, das „für die Stadt Hamburg steht, wie der Anker, der Hafen, Fischbrötchen und ein herzliches ´Moin, Moin´ (Seite 521).

Bevor es jedoch so weit ist, gibt es jede Menge Verwicklungen beim Schmuggeln, Verbergen der Schmuggelware, in der Liebe und im Verhältnis zur Freundin und Nachbarin Sophie; umrankt diese doch ein Geheimnis.

Thematisiert werden auch die wechselnden Besetzungen der Stadt durch Dänen und Russen, die zunächst als Befreier begrüßt wurden; sowie der wiederholte Einmarsch von Napoleons Truppen, und die Kontinentalsperre, die viele reiche Hamburger Kaufleute in den Bankrott getrieben hat.

Und es wird gebacken – aus Notwendigkeit, zur Ablenkung und aus Liebe. Das Rezept zu den berühmten Franzbrötchen steht im Cover des Buches, die genaue Anleitung wird mehrmals im Roman beschrieben – guten Appetit beim Lesen, backen und Essen!


Michaela A. Gabriel: Die Frauen vom Reichstag. Ruf nach Veränderung. Roman. Rowohlt Taschenbuchverlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-499-00680-7, 428 Seiten 


Der zweite Band dieser Reihe spielt sieben Jahre nach den Ereignissen im ersten Band nämlich 1926. Wieder begegnen uns die Protagenistinnen Marlene von Runstedt und Sophie Maytrott. Beide Frauen sowie weitere handelnde Personen sind fiktiv, ihre Lebenswege und vertretenen Positionen stellen jedoch eine Mischung aus den Biografien der ersten 37 weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik dar. Zum Zeitpunkt der Handlung sind einige von ihnen allerdings bereits aus dem Reichstag ausgeschieden (worden), so dass sich ihr Anteil in diesen nur sieben Jahren bereits halbiert hatte. Auch Sophie Maytrott wird im Roman von ihrem Ehemann bedrängt, ihr Mandat bereits nach den ersten zwei Jahren der laufenden Wahlperiode aufzugeben, da dies ja „ohnehin nur ein Hobby sei“ und er sie als Hausfrau und repräsentative Gattin in München benötige.

Doch nicht nur dagegen muss sie ringen, sondern auch um ihre Freundschaft bzw. Liebe zu einem anderen Mann. Gleiches trifft auch auf Marlene von Runstedt zu, deren große Liebe durch Unfall verstorben war (im ersten Band); auch sie muss sich neu entscheiden. Nicht nur für eine neue Liebe, sondern auch für die Hilfe bei der Adoption des Kindes ihres verunglückten Liebhabers und für eine mögliche berufliche Karriere. Durch den Tod ihres Vaters ist die Weiterführung seiner Kanzlei vakant und so werden am Beispiel Marlenes die Aus- und Weiterbildungs¬möglichkeiten von Frauen zu dieser Zeit anschaulich beschrieben.

Neben diesen persönlichen Verwicklungen, werden im Roman auch die großen und kleinen politischen Entscheidungen dieser Weimarer Zeit thematisiert: der sog. „Flaggenstreit“ (schwarz-rot-gold versus schwarz-weiss-rot), das Staatsbürger-schaftsrecht, der § 218 (die Verringerung der Strafe für Schwangerschaftsabbruch von Zuchthaus zu Gefängnis konnte durchgesetzt werden, für weitere positive Veränderungen fehlte dann aber die Zeit), Maßnahmen zur Durchsetzung des Verbots von Kinderarbeit (das Verbot war noch zur Kaiserzeit erlassen worden), Gleichstellung von Männern und Frauen bei der Erwerbslosenfürsorge, Einführung eines Jugendstrafrechts u.a.m. Zur Veranschaulichung für Letzteres greift die Autorin einen authentischen Fall auf: die „Schülertragödie von Steglitz“, in der ein siebzehnjähriger Schüler des Doppelmordes angeklagt wurde.

Gleichzeitig wird der wachsende Antisemitismus thematisiert, sowie die Verharmlosung der Positionen der konservativen Rechten. Der o. g. Flaggenstreit ist ein Ausdruck dieser Kämpfe. Im Buch wird er eingeführt durch die Entscheidung Sophies, zur 2. Frauenkonferenz in Paris die „richtige“ Flagge mitzunehmen. Auf der ersten 1926 musste die deutsche Delegation noch ganz ohne Flagge auskommen, jedoch kam es bereits hier zur Aussöhnung von Deutschen und Französinnen nach dem 1. Weltkrieg und der Vereinbarung gemeinsamer Positionen in vielen politischen Fragen. Genaueres dazu ist wie immer im Buch bzw. im Nachwort nachzulesen.


Micaela A. Gabriel: Die Frauen vom Reichstag. Stimmen der Freiheit. 


Rowohlt Verlag Hamburg, 2022 ISBN 978-3-499-00682-1, 480 Seiten 


Angeregt durch Recherchen ihrer Tochter beschäftigt sich die Autorin mit einem nach wie vor aktuellen Thema: Frauen in Parlamenten. Der vorliegende Roman ist der Auftakt zu einer Reihe – leider mit fiktiven Personen. „Die erfundenen Protagonistinnen sind eine Mischung aus den Biografien der siebenunddreißig ersten weiblichen Abgeordneten des Reichstags und ihrer Zeitgenossinnen“ schreibt sie selbst im Nachwort (S. 475). Ihr sei wichtig gewesen, die „Lebenswege der Frauen in komprimierter Form“ darzustellen. Im vorliegenden Band geht es um eine Adlige, die für die Deutsche Demokratische Partei antritt, sowie deren ehemalige Freundin, eine Schauspielerin, die für die Deutschnationale Volkspartei antritt. Während die Motive letzterer für die Wahl gerade dieser Partei noch relativ klar herausgearbeitet werden (Arbeit an der eigenen Karriere), bleiben die Grundlagen für Marlene von Runstedts Entscheidung teilweise unklar – die Lesenden können Herkunft und Erziehung vermuten. Dies ist m. E. das Manko dieses Buches – es fehlt die Darstellung einer breiten Palette von damals existierenden Parteien, mit deren politischen Programmen, und die darauf aufbauenden Präferenzen von Frauen für diese. Jedoch soll dieser Band ja der Auftakt zu einer Reihe darstellen – insofern wird diese Lücke evtl. noch geschlossen.

Die Handlung ist eingebettet in eine Dreiecksgeschichte: die Liebe der beiden Protagonistinnen zum gleichen Mann, die relativ banal durch den Tod des Helden aufgelöst wird. 

Weiterhin bietet der Roman interessante Einblicke in typische Sicht- und Verhaltensweisen des bürgerlichen Milieus, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und es wird eines der typisch weiblichen Probleme angesprochen: Umgang mit einer ungewollten Schwangerschaft. Während für die eine Frau dies ein Druckmittel für eine Heirat ist, lässt die andere abtreiben. Das sie den Hinweis dazu ungefragt von einer Sprechstundenhilfe bekommen hat, halte ich jedoch für unwahrscheinlich. 

Sehr interessant und bisher in der Literatur kaum dargestellt ist der Einsatz der Heldin des Buches für die Repatriierung von Frauen nach dem ersten Weltkrieg. Diese waren nicht nur als Krankenschwestern, sondern zunehmend auch als Schreibkräfte, Etappenhelferinnen etc. mit an der Front gewesen. Die männliche Heeresleitung hatte diese bei der Rückführung der deutschen Truppen nicht im Blick, obwohl gerade sie besonderen Gefahren ausgesetzt waren.

Insgesamt liest sich der Roman schlüssig und spannend – jedoch eher im Sinne einer verwickelten Liebesgeschichte, statt als Darstellung der „Frauen vom Reichstag“.


Walter Christian Kärger: Der Tote aus dem See. 


Bodensee Krimi. Emons Verlag GmbH, 2022 ISBN 978-3-7408-0795-5, 443 Seiten

 

Das Buch beginnt gleich auf der ersten Seite mit einem Mord, dem ein weiterer und eine Entführung folgen. Insofern ist von vornherein für Spannung gesorgt – flankiert von jeder Menge Bodenseeflair.

Hauptkommissar Max Madlener und seine Kollegin Harriet Holtby ermitteln zum wiederholten Male zusammen, diesmal in der Welt des Hochadels. Reizvoll zu lesen sind ihre Dialoge in Form These und Antithese durch Mr. Crawford und Agent Sterling (eine Adaption für Filmfans – jedoch auch für Nichtkenner der Originale anregend zu lesen).

Weniger spannend dürfte inzwischen das Klischee des inkompetenten Vorgesetzten sein – kein deutscher Krimi kommt offenbar derzeit ohne dieses aus. Der Handlungsdramatik tut das jedoch keinen Abbruch, das Buch liest sich jederzeit spannend, auch zur fiktiven Familiengeschichte des betroffenen Adelsgeschlechts. Dazu trägt auch die gewählte Waffe bei – eine Armbrust, die mehrfach zum Einsatz kommt. Dazu passend ist der Wohnsitz dieses Adelszweiges im Schwarzwald angesiedelt, eine Treibjagd wird geplant und jede Menge Jagdtrophäen beschrieben.

Thematisiert wird auch das Kompetenzgerangel zwischen örtlichen Einsatzkräften, Landeskriminalamt und SEK – auch das ein Dauerbrenner im deutschen Krimi, mit dem üblichen Ausgang. 

Obwohl daher die Leserschaft spätestens ab Mitte des Buches ahnt, wer den Fall letztendlich löst, was das bis dahin unklare Motiv und wer Täter ist bleibt das Buch spannend bis zum Schluss und ist eine hervorragende Urlaubslektüre, nicht nur am Bodensee.


Miriam Georg: Das Tor zur Welt. Träume


Rowohlt Verlag Hamburg, 2022, ISBN 978-3-499-009217-1, 648 S.


Die Autorin wendet sich einem historischen (und doch so brandaktuellem) Thema zu: Die Auswanderungswelle Ende des 19. Jahrhunderts. Erzählt werden die Schicksale zweier Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch zur gleichen Entscheidung führen – Deutschland in Richtung Amerika zu verlassen. Da ist zum einen Ave, zurückgelassenes Kind bereits ausgewanderter Eltern, die auf einem bettelarmen Bauernhof im Moor von früh bis spät alle anfallenden bäuerlichen Arbeiten verrichten muss, und zum anderen die reich geborene Claire, auf der Suche nach Abenteuern und Vergnügungen, sowie dem Ehemann, der ihr diese ermöglichen kann. Im Roman treffen sich beide, werden Freundinnen und doch wird eine die andere betrügen.

In diese Geschichte eingebettet ist die Entstehung von Ballin-Stadt, der Auswandererstadt der Schifffahrtslinie HAPAG in Hamburg. Eigentlich handelt es sich um eine Auswanderungsmaschinerie, die im Buch von der Anwerbung, Erstellung von Dokumenten, medizinischen Untersuchungen, Verkauf notwendiger Kleidung, etc. beschrieben wird. Diese Methoden sind keineswegs immer legal, sowohl die Ausschleusung von Menschen ohne gültige Papiere, als der überteuerte Verkauf von unnötigen Dienstleistungen (wie z. B. ein spezieller Haarschnitt, der angeblich zur Einwanderung in Amerika notwendig sei) werden am Schicksal eines „Emporkömmlings“ (so der Ausdruck den die alteingesessene Hamburger Gesellschaft dafür benutzte) beschrieben. 

Beschrieben werden auch die dramatischen Zustände auf den Auswanderungsschiffen in der 3. Klasse – durch eingefügte Erzählungen anderer Personen. Weitere Details dieser Epoche sind ebenfalls gut recherchiert und dargestellt: die fragwürdigen und unmenschlichen Methoden zur Behandlung von Hysterie, die Abhängigkeit der Frauen von Vätern, Ehemännern und Vormündern. 

Natürlich fehlen auch diverse Liebesgeschichten bzw. Verwicklungen nicht – sie stellen jedoch nicht den Hauptinhalt des Romans dar, sondern dienen eher dazu, um dem Handlungsstrang immer wieder unerwartete Wendungen zu geben. Dieser ist am Ende des Buches keinesfalls abgeschlossen – der zweite Band soll am 18.10.2022 erscheinen.

Gleichfalls am Ende des Buches finden sich Originalfotos aus dieser Zeit, über scheinbar idyllische Zustände in Ballin-Stadt, aber auch ein Plakat, das zur Warnung von alleinreisenden Frauen dienen sollte. Und natürlich ein Nachwort der Autorin, das auf die Unterschiede zwischen Fiktion und Realität in der Erzählung verweist.


Michael Pohl: NIEMALS ENGLAND.


Conbook. Medien GmbH Neuss 2022, ISBN 978-3-95889-334-4, 251 S.


„Niemals England“ ist der in fett und Großdruck zunächst ins Auge fallende Titel – bei genauem Hinschauen erweist sich das als Spiel des Grafikers/Autors mit unseren Lesegewohnheiten. Zusammen mit dem „Kleingedruckten“ lautet der vollständige Titel des Buches: Was sie dachten NIEMALS über ENGLAND wissen zu wollen. 55 vereinigte Einblicke in ein Königreich. Der Reisejournalist Michael Pohl erklärt auf vergnügliche Art und Weise Eigenheiten, Ursachen und Traditionen nicht nur von Engländern, sondern von Menschen aus dem gesamten Königreich Großbritannien.

Dabei beschreibt er sowohl eigene Beobachtungen als auch „harte Fakten“ (stets am Abschluss eines Kapitels). Diese befassen sich sowohl mit Ess-, Trink- und Sprachgewohnheiten, als auch mit deren Vorlieben fürs Schlange stehen, Wetten, Entschuldigungen. Auch politische Themen und für andere Europäer*innen schwer nachwollziehbare Entscheidungen werden erläutert: Treue zur Monarchie, Brexit, Verhältnis zu Kolonien etc. Dabei kommt durchaus Überraschendes zu Tage: so ergab 2019 eine YouGov-Umfrage, „dass die Briten von den Vorteilen der Einwanderung überzeugter sind als jede andere große europäische Nation. Fast die Hälfte der Briten hat demnach sogar festgestellt, dass Einwanderer für das eigene Land positive Ausstrahlung … haben“ (S. 94). Auch deren Sichtweise auf die vielen Feiertag unterscheidet sich von der üblichen europäischen: bestimmte Kalkulationen sehen einen wirtschaftlichen Aufschwung für Branchen wie Freizeit, Gastgewerbe und Einzelhandel, wenn „Menschen an einem Tag, statt zu arbeiten, ihr Geld ins Land hinaustragen. Positive Schätzungen beziffern das Plus auf 1,1 Milliarden Pfund für die betreffenden Branchen“ (S. 90). Hier spielt natürlich eine Rolle, dass es in England viele Geschäfte schaffen, die Feiertagsregelung (d. h. Schließung) zu umgehen. 

Nicht fehlen darf natürlich ein Kapitel zum Linksverkehr – erfunden schon in der Antike, meint der Autor.

Angesichts der weltweit vielfach beschriebenen und beklagten Einsamkeit vor allem während Corona ist auch interessant, dass mit Tracey Crouch erstmals eine Ministerin für Einsamkeit durch Theresa May ernannt wurde. Diese Ministerin solle vor allem „Senioren und deren pflegenden Angehörigen helfen, sowie jenen Menschen, die um den Verlust eines ihnen nahestehenden Menschen trauern“. Allerdings habe Tracy Crouch in der turbulenten Phase von Brexit und Corona nicht lange im Amt durchgehalten und wurde inzwischen mehrfach ersetzt (S. . 86/87).

Vieles mag uns skurril erscheinen, aber vielleicht macht gerade das den Reiz aus, sich über diese Eigenheiten zu informieren, manchmal zu lachen, aber sie zu akzeptieren.


Nadia Durrani und Brian Fagan. Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit. 


Aus dem Englischen Übersetzt von Holger Hanowell. Reclam jun. Verlag GmbH Stuttgart, 2022, ISBN 978-3-15-011337-8, 269 S.


„Die zeitliche Einordnung, wann wir Menschen zum ersten Mal Betten benutzten, hängt davon ab, wie man ein Bett definiert“ (S. 18). Entsprechend dieses grundlegenden Ausgangspunktes der Recherche werden im Buch in Wort und Bild zunächst historische Schlafstätten oder -möglichkeiten vorgestellt. Diese werden im Kontext ihrer Zeit weiter erläutert, sodass die Leserschaft nicht nur etwas über die jeweilige gesellschaftliche Bedeutung der Ruhe-, Protz- oder Arbeitsstätte (denn auch dafür wurden Betten vor allem in Königshäusern genutzt), sondern auch über mit dem Thema Schlafen (oder auch nicht) stehende Zusammenhänge. So wurde in London im 19. Jh. die erste Berufspolizei gegründet, um die Zeit des Schlafens sicherer zu machen und besser zu schützen.

Überhaupt werden die Tätigkeiten im Bett ausführlich dargestellt – Regieren, Sex, Gebären, Erholen, Sterben. Gerade bei letzterem gab es zahlreiche Zeremonien, vor allem für Könige. Gleiches gilt für das Gebären. Bei beiden Tätigkeiten waren die zahlreichen Gäste eher lästig denn hilfreich. Das galt (und gilt) auch für andere Mitbewohner von Schlafstätten, deren Austreibung wird ebenfalls beschrieben.

In einigen Haushalten gab es mehrere Betten (Prunk- und Nutzbetten), über deren jeweilige Vererbung Amüsantes zu lesen ist. Insofern gibt das Buch auch Auskunft dazu, wann und warum das Bett zur Privatsache/Privatsphäre geworden ist (S. 199 ff.). Genau weiß man dies nicht, denn das Thema Privatsphäre tauchte in allen häuslichen Bereichen überhaupt erst Ende des 18. Jh. auf. „1875 erschien im Magazin Architect ein maßgebender Essay, in dem es hieß, Schlafzimmer seien allein dem Schlafen vorbehalten. Jede andere Nutzung sei so ungesund wie unmoralisch … nicht nur das gemeinschaftliche geteilte Schlaflager wurde als unmoralisch betrachtet – selbst das kleinste städtische Haus sollte zwei Schlafzimmer aufweisen, eines für die Eltern, das andere für die Kinder …“ (S. 208).

Abschließend wird auf sich verändernde Räume und Schlafstätten eingegangen. Die Zukunft läge bei smart furniture, diese kommen nicht nur von der Decke (um tagsüber Platz zu sparen), sondern enthalten auch alle Funktionen, um steuernd Haushalt und Arbeit zu erledigen. Diese Kapselbetten steuern also nicht nur Temperatur und Beleuchtung, sondern blenden anderweitige störende Geräusche aus, enthalten dazu aber Massagesysteme u. a. m.

Angesichts dieser Aussichten geht die Rezensentin jetzt in ihr Bett aus dem 20.  Jh. und nimmt ein ebenso veraltetes, auf Papier gedrucktes, Buch mit …


Manfred Paulus: Zuhälterei gestern und heute. Über Hurenwirte, Kiezkönige und die Sexsklaverei der Mafia. 


Promedia Verlag Wien 2022, ISBN 978-3-85371-500-0, 224 S. 


Der Autor Manfred Paulus war jahrzehntelang als Kriminalkommissar im Rotlichtmilieu tätig und ist somit ein exzellenter Kenner der Szene. Er beschreibt zunächst die Geschichte der Prostitution von der Antike an und geht dabei insbesondere auf einer beteiligte Partei ein, die oftmals in Betrachtungen zur Prostitution vernachlässigt wird bzw. überhaupt nicht auftaucht – den Zuhälter. Zu Recht schreibt er in der Einführung, dass deren Tun häufig als marginales und gesellschaftlich wenig bedeutsames Geschehen eingestuft wird und deshalb außerhalb der Betrachtung bleibt. Es handele sich jedoch „in zunehmenden Maße um verbrecherische Banden oder Clans, die der … gefürchteten Organisierten Kriminalität (OK) zuzuordnen sind und längst eine größere ´gemeine Gefahr für Staat und Gesellschaft´ darstellen als jemals zuvor“ (S. 7). Diese These belegt er im 4. Kapitel mit ausführlichen Beschreibungen von Clans, Großfamilien, Rocker- und rockerähnlichen Gruppierungen und deren Geschäftsfeldern, nicht nur in der Prostitution, sondern auch im Menschen- und Waffenhandel. 

Zunächst erfolgt im Buch eine interessant zu lesende Geschichte der Zuhälterei von den „Loverboys“ der Antike bis in die Nachkriegsjahre. Die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich wird, gegliedert nach einzelnen Städten und markanten Zuhältern, beschrieben. Dabei geht der Autor stets auf die soziale und gesetzgeberische Situation als Voraussetzung bzw. Begünstigung bestimmter Entwicklungen ein, insbesondere während und nach den beiden Weltkriegen. Viele zitierte Einzelschicksale belegen anschaulich diese Darstellungen. Dem Titel des Buches entsprechend überwiegen dabei Erzählungen über Luden, „Sparer“, „Spritzer“, „Sonntagskellner“ (im Buch werden noch weit mehr Begriffe angeführt); deren teilweise genüssliche Ausführlichkeit erschließt sich erst am Ende des Buches im Vergleich mit den dort beschriebenen Clans und Familienbanden, und deren Umgangsformen.

Wichtig ist im Kapitel zu „Menschenhandel und Zuhälterei heute“ die Auseinandersetzung mit der immer wieder zu hörenden These von der „Freiwilligkeit“ und dem angeblich jederzeit möglichen Ausstieg. Die Gesetzgebung zum Thema in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird im Anhang ausführlich zitiert und im Text hinsichtlich ihrer Konsequenzen erläutert – vor allem hinsichtlich der Frage, ob Prostitution ein Gewerbe (wie jedes andere) sei. Es erscheint geradezu makaber, wenn der Autor feststellen muss, dass in Deutschland manche „Gewerbetreibende“ und „Unternehmer“ in Coronazeiten als „Helden in der Krise“ gefeiert wurden, „weil sie den ihnen anvertrauten ´Prostituierten´ trotz Schließung der Bordelle Unterkunft gewährten“. Damit nicht genug: sie wurden „von Vater Staat für ihre bedauerlichen Verdienstausfälle entschädigt“ (S. 137).

Abschließend sei daher die Gleichstellungsministerin Schwedens zitiert: „Eine Gesellschaft, die Prostitution als Beruf oder Wirtschaftszweig anerkennt, ist eine zynische Gesellschaft, die den Kampf für die schutzlosesten und verwundbarsten Frauen und Kinder aufgegeben hat“ (S. 141 – im Text leider ohne Namen und Quelle, daher sei dies hier nachgeholt: Margareta Winberg in www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/155371/deutschland-schweden-unterschiedliche-ideologische-hintergruende-in-der-prostitutionsgesetzgebung/ 

– abgerufen 30.3.2022).


Marie Benedict. Mrs Agatha Christie 


Kiepenheuer & Witsch 2022, ISBN 978-3-462-00295-9, 315 S. 


Krimifans aufgepasst – hier kommt ein highlight des Jahres! Nach „Frau Einstein“ und „Lady Churchill“ beschäftigt sich die Autorin (sie hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert) nun mit der Queen of Crime – genauer: mit ihrem elftägigen Verschwinden. Dies sei bis heute deren größtes Rätsel, das diese selbst in ihrer Autobiografie (Agatha Christie Meine gute alte Zeit. Eine Autobiografie, erschienen bei Scherz anlässlich ihres 100. Geburtstages) weder erwähnt noch löst. Andere Biografien (so z.B. Janet Morgan Agatha Christie. Das Leben einer Schriftstellerin – spannend wie einer ihrer Romane, Heyne Verlag) versuchen aus vorhandenen Puzzleteilen (Briefe, Polizeiprotokolle, Gesprächen mit Angehörigen) eine Erklärung zu finden – ohne diese letztendlich zuverlässig belegen zu können.

Marie Benedict geht anders vor. Sie bietet uns eine Geschichte ganz im Stil Agatha Christies – in Form eines Krimis, dessen Lösung erst auf den letzten Seiten erfolgt. Dank der exzellenten Übersetzung durch Marieke Heimburger liest sich das Buch wie von A. Christie selbst geschrieben – sowohl im Sprachstil wie im Aufbau der Handlung. Die Kapitel wechseln jeweils von der Zeit des Kennenlernens der Heldin mit ihrem ersten Mann zu einem Kapitel über die polizeiliche Untersuchung zu ihrem Verschwinden. 

Der Roman ist jedoch nicht nur ein spannender Krimi oder ein Zeugnis über die Lebensweise bestimmter Schichten im „old England“, sondern auch ein Beitrag zur Geschichte des Feminismus. Zeigt er doch, wie eine Frau sich durchsetzt und letztendlich ihre Befreiung aus ehelichen und gesellschaftlichen Fesseln ermöglicht.

Die Autorin hat sich ein für historische Biografien völlig neues Genere gewagt – den Kirminalroman – und es ist ihr gelungen: Spannung von der ersten bis zur letzten Seite, einfach Lesevergnügen pur!


Antje Schrupp,  Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung. 


Unrast Verlag Münster 2022, ISBN 978-3-8977-151-8, 86 S. 


In Band 11 der Reihe „geschlechterdschungel“ widmet sich die Politologin Antje Schrupp, einem Thema, das mindestens die Hälfte der Menschheit unmittelbar betrifft – der reproduktiven Freiheit als Menschenrecht. Durch den „aggressive(n) Anti-Abtreibungsaktivismus von rechtsextremer und populistischer Seite“ sei das Thema wieder verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gekommen (s. S. 7). Auch „Väterrechtler“ würden seit vielen Jahren daran arbeiten, „die Freiheit von Menschen, die Kinder gebären, zu untergraben“ (S. 8).

Zunächst klassifiziert sie den Beitrag Schwangerer als „gesellschaftliche Kulturarbeit“. Bewusst vermeidet sie die Einengung auf Frauen, denn entsprechend den neuen gesetzlichen Regelungen können auch Transmänner schwanger werden, da eine geschlechtsangleichende Operation nicht mehr Bedingung für die Änderung des sozialen Geschlechts ist. Ausführlich erläutert sie zunächst „Varianten der Natur“, um sich dann der Erfindung der Geschlechterdifferenz und der Entstehung des Patriachats zuzuwenden. Im Anschluss wird kurz die Geschichte des § 218 dargestellt, sowie die damit verbunden Folgen: unsachgemäße Versorgung von Schwangeren, da Abbrüche nicht mehr Gegenstand der Ausbildung seien; es immer weniger Einrichtungen gibt, die Abbrüche durchführen; aber auch mangelnde Einbeziehung von Schwangeren in Arzneimitteltest (und nicht zuletzt das lange Vorenthalten von Impfstoffen in der Corona-Pandemie). Ihre berechtigte Schlussfolgerung zu diesen Entwicklungen ist, dass es künftig nicht mehr darum gehen kann, die Legitimität von Abtreibungen zu begründen, sondern darum, „den Spieß umzudrehen und deutlich zu machen, warum es unmoralisch und unethisch ist, wenn Dritte oder die Gesellschaft per Gesetz und Strafandrohung über den Körper von Schwangeren entscheiden wollen“ (S. 45).

Weiterhin befasst sie sich mit modernen Reproduktionstechnologien – die gleichfalls nicht allen Personen uneingeschränkt zugänglich sind – viele nationale Gesetzgebungen würden Homosexuelle oder Alleinstehende ausschließen, in anderen Ländern erfolge der Ausschluss über die Kostenfrage. In diesem Zusammenhang verweist Schrupp darauf, dass die Entwicklung dieser Technologien schneller erfolgt sei, als die gesellschaftliche Debatte darüber. Dies habe u. a. zu Zielsetzungen bei Forschungen geführt, die kritisch hinterfragt werden müssten – z. B. wurden nicht Inkubatoren weiterentwickelt, sondern Gebärmuttertransplantationen (vgl. S. 59). Auch Leihmutterschaft und Eizell“spende“ (sie spricht von Verkauf – S. 81) sei in bestimmter Weise frauenverachtend und ausbeuterisch. Hier müssten viel stärker gesellschaftliche Debatten geführt werden – genau dazu liefert das Buch vielfältige Anregungen.


Katharina Volk (Hrsg.) Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben. 


Karl Dietz Verlag Berlin 2022, ISBN 978-3-320-02393-5, 174 S. 


In der Reihe „Biografische Miniaturen“ des Berliner Karl-Dietz Verlages ist, gefördert durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, rechtzeitig zum 150. Geburtstag, ein Titel erschienen, der Leben und Werk der ersten Diplomatin und Ministerin der Welt würdigt. Die Herausgeberin Katharina Volk ist promovierte Politikwissenschaftlerin und arbeitet u.a. ehrenamtlich im Redaktionsbeirat der Zeitschrift "Wir Frauen - das feministische Blatt". 

Das vorgelegte Buch ist in 3 Teile gegliedert: biografische Erzählungen und Wertungen; Texte von und über Alexandra Kollontai und ein Anhang mit den biografischen Daten, einem Personenregister und einem Literaturverzeichnis zu Schriften von und über Alexandra Kollontai.

Sie gehörte mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin (deren Porträts ebenfalls in der genannten Reihe erschienen sind) zu den bedeutensten Revolutionärinnen des 20. Jahrhunderts – obwohl sie in beiden deutschen Staaten weniger gewürdigt wurde. Bekannt war sie bzw. ihre Schriften durchaus: in der DDR –erschien u.a. 1974 ihre Autobiografie „Ich habe viele Leben gelebt“ und 1984 eine Biografie von Sinowi Schenis. Beides stieß auf ein lese- und diskussionsfreudiges Publikum. Auch in der alten BRD wurde sie jedoch vor allem in den 70er Jahren rezipiert. 

Was macht also den Reiz aus, sich erneut/weiterhin mit dieser Frau, ihrem Leben und ihren Ansichten zu beschäftigen? Es sind m.E. sowohl ihre feministischen Erfahrungen in der Diplomatie (sie war Botschafterin in Schweden, Norwegen und Mexiko) und Politik (sie war Volkskommissarin für soziale Fürsorge und leitete die Zhenotdel, das weibliche Zentralkomitee in Lenins erster Regierung, das dafür sorgen sollte, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen zu verbessern) als auch ihre Ansichten zu Ehe, Familie, Partnerschaft und Mutterschutz, die nach wie vor aktuell sind. Insofern ist es anregend, ihre Ansichten nicht nur eingebettet in ihre Lebenserzählung zu lesen, sondern im 2. Teil des Buches die Texte im Original zu finden. 

Weiterhin hervorhebenswert ist, dass die Autorin Widersprüche im Leben A. Kollontais nicht verschweigt oder zu glätten versucht – so u.a. Kollontais Verhältnis zu Stalin.


Wir Frauen. Das feministische Blatt. 


Herausgegeben von WIR FRAUEN – Verein zur Förderung von Frauenpublizistik 


Bereits seit 1982 gibt es diese vierteljährlich erscheinende Zeitschrift, die für linken Feminismus steht und von Menschen zwischen 25 und 77 Jahren herausgeben wird, die aus der „alten“ und neuen“ Lesben- Queer- und Frauenbewegung kommen. Ihr gemeinsamer Slogan lautet „unabhängig – widerständig – solidarisch“. Unter www.wirfrauen.de ist auf der website zu lesen: „Seit 1982 stellt WIR FRAUEN dieselben Fragen: Wer profitiert von den Verhältnissen? Wer schafft die Verhältnisse? Wer zahlt den Preis? Wie leisten Frauen weltweit Widerstand? Wo und wie realisieren sie ihre Ideen und Lebensentwürfe, ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe? Wie können Arbeit und Einkommen, Kultur, Bildung und Gesundheit, Sorgearbeit, Einfluss und Verantwortung gerecht miteinander geteilt werden?“

Im 40. Jahrgang (2021) gibt es 2 Hefte, die sich mit Themen beschäftigen, denen sich auch wir HallenserInnen in der Vergangenheit zugewandt hatten: so hat Heft 3 den Schwerpunkt „Feministische Stadt“ – hier geht es um Themen wie: „Schlafplätze für alle“, „Grüne Flächen selber machen“ oder „Gleichstellungspolitik, die sich im Stadtbild niederschlägt“. Ich erinnere unsere Hallenser Initiativen zur besseren Beleuchtung bestimmter Straßen – angestoßen damals durch den Frauenpolitischen Runden Tisch in der Stadt Halle – der u.a. deshalb nicht aufgegeben werden sollte. 

Das Heft 4 hat den Schwerpunkt „Künstliche Intelligenz“, der mich unmittelbar an unsere letzten Frauenkulturtage zum Thema „Frauen und Digitalisierung“ erinnert hat. Hier sind es Überschriften wie „Was die Kybernetik vom Feminismus lernen kann…“ oder „My Body, My Data, My Choice“ die neugierig machen.

Immer enthalten ist eine Rubrik „Krieg & Frieden“, „Herstory“ und natürlich „Gehört/Gelesen“. Darüber hinaus werden im „Hexenfunk“ aktuelle Meldungen, Projekte, Jubiläen vorgestellt. Natürlich fehlen wie in jeder guten Zeitschrift auch die historischen Themen nicht – in Heft 3/2021 sind es die Frauenbilder in der neuen Ausstellung des Hauses der Geschichte in Bonn, Heft 4/2021 befasst sich mit Frauen im Design 1900. 

Heft 1/2021 hat den Schwerpunkt Europa – wieder sowohl historisch („Ausländische Frauen in der Pariser Kommune“), als auch mit Fragen „Wie weiblich ist die Macht in Europa? und „Wenn wir mal gedurft hätten“ (was – das müsst Ihr selbst lesen).

Ebenfalls thematisiert wird die in Halle nur zu gut bekannte Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppierungen – hier am Beispiel des Lesbenfrühlingstreffens 2021.

Alles in allem – spannende vielseitige Lektüre – für Menschen aller Orientierungen.


Schwarze Feminismen/Black Feminismus: Femina Politica. 


Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 02/2021 30. Jahrgang


Der vorliegende Schwerpunkt ist für die Zeitschrift eine Premiere. Er knüpft an aktuelle politische Debatten wie Black Lives Matter, (Neo)-Kolonialismus von Grenz- und Migrationsräumen, strukturellen Rassismus im Gesundheitssektor, Klimaaktivismus und Digitalisierung u.a.m. an – heißt es im Editorial der Redaktion. Durch die Zweisprachigkeit des Heftes (deutsch und englisch) kommen zudem Autorinnen zu Wort, die sonst für das deutsche Publikum erst mühsam zu eruieren wären.

Von den Verfasserinnen des Eingangsbeitrages, Denise Bergold-Caldwell, Christine Löw, Vanessa Eileen Thompson werden zunächst methodologische Probleme erörtert: nicht nur, dass schwarze transnationale Feminismen häufig nicht zur Kenntnis genommen werden, arbeiten diese auch mit anderen Begriffen bzw. Herangehensweisen. So seien die Kategorien „gender“ und „Frau“ auf afrikanische Kontexte kaum oder gar nicht übertragbar. Dafür sind ihre Ansätze konsequent mit Debatten um Kolonialismus, Sexismus und Gewalt verbunden. Insbesondere Gender-Effekte bei zunehmend unsicheren Migrationswegen und des Lagersystems spielen eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen. Schwarze Geflüchtete seien überproportional zu Geflüchteten anderer Communities Gewalt und Feindseligkeiten ausgesetzt und benachteiligt – z.B. bei der Übermittlung wichtiger Informationen.

Am spannendsten für mich war der Beitrag von Jamila A. Adamugu „Die Orte, an denen wir heilen. Für schwarze Communities of Practice, Dialogue and Care“. Da es bislang offiziell keine formellen (Selbsthilfe-)Gruppen von und für Schwarze Frauen und LGTBIQ in Deutschland gibt, habe sie sich auf ganz persönliche Kraftquellen fokussiert. Ein Teil des Artikels entspringt daher persönlichen Erfahrungen. Schwarze Frauen mit Brustkrebs seien in Deutschland weitgehend unsichtbar – entsprechend fehlen sie auch in Studien – und damit im Konzept möglicher Behandlungsalternativen.

Ebenfalls sehr anregend ist die Frage von Sheena Anderson, „was der Klimawandel mit Black Lives Matter zu tun“ (habe) – S. 64. Klimagerechtigkeit bedeutet für sie den umfassenden Abbau sexistischer, rassistischer, sozialer, ökonomischer, ökologischer und gesundheitlicher Ungerechtigkeit (vgl. S. 69).

Schwarzfeministische Perspektiven auf Künstliche Intelligenz (von Laura Schelenz) sind ebenso Thema des Heftes wie „Wut, die erzählt“ und als Wissensquelle genutzt werden kann(von Leslie Karina Debus) wie eine generelle Analyse des Anstiegs von Antifeminismus in Deutschland (Carla A. Ostermeyer).

Weiterhin enthält das Heft eine Analyse des 3. Gleichstellungsberichts der Bundesregierung zum Aspekt Digitalisierung, zur geschlechterblinden Verwendung von EU-Corona-Geldern, zur dramatischen Zuspitzung von Femiziden in Mexiko im Rahmen des Drogenkrieges (Frauen seien hier oft „Kollateralschäden“ – s. S. 185), Berichten aus Lehre und Forschung, sowie Rezensionen und natürlich den call for papers zum nächsten Heft zum Thema „Geschlecht – Gewalt – Global“, das sicher schon im Druck ist und nicht verpasst werden sollte!


Evke Rulffes Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung. 


Verlagsgruppe Harper Collins Hamburg 2021, ISBN 978-3-7499-0240-8, 287 S.


Das Buch, so die Autorin, sei ein „Plädoyer für mehr Wertschätzung und Anerkennung von Haus- und Care-Arbeit, für die angemessene Bezahlung…“ und  soll zum Nachdenken über Erwartungen an heutige Mütter und die fehlende Solidarität unter Frauen anregen (S. 258f). 

Dazu geht die Kulturwissenschaftlerin (weiterhin studierte E. Rulffes Kunstgeschichte und niederländische Philologie) der Frage nach, „woher der gesellschaftliche Anspruch an die Perfektion der Mutter kommt und wie er mit dem Modell der Hausfrau zusammenhängt“ (S. 8). Sie begründet die Veränderung des Frauen- und Mutterbildes Ende des 18. Jahrhunderts mit einer umfangreichen Textanalyse von Ratgeberliteratur (so der heutige Terminus) – damals „Hausväterliteratur“ bzw. „Hausmutter“ – Lexika und einschlägiger Werke der Aufklärer (u.a. von Rousseau). 

Dabei zeigt sie nicht nur die Wandlungen dieses Begriffes auf: Hausmutter sei zunächst ein Herrschaftsbegriff und Beruf gewesen: die Frau war Managerin nicht nur eines mehr oder weniger großen Haushalts mit Gesinde, teilweise im Handwerk des Mannes eingebunden, vertretungsberechtigt in dessen Abwesenheit, Geldteintreiberin bei säumigen Zahlern etc. Allerdings, so betont die Autorin, hätten die durchweg positiven Schilderungen dieses Bildes und der Möglichkeiten von Frauen vor allem in den 5 Bänden des Friedrich Christian Germershausen („Die Hausmutter in allen ihren Geschäften“) nicht in jedem Fall der Realität entsprochen. 

Unabhängig vom im Text enthaltenen sozialpolitischen Bild der Frau zitiert E. Rulffes viele Details, die uns heute eher amüsieren, denn zur Nachahmung anregen – so dass die Butter auf dem Herrschaftstisch in großen und länglichen Stücken auf den Tisch kommen soll, auf keinen Fall zu weich oder in einer Butterbüchse (s. S. 125f); dass Stricken als Zeichen von Sittlichkeit galt u.ä. 

Vorstellungen vom Status der Frauen verändern sich mit den sozialen Veränderungen, vor allem durch die Entstehung eines gestuften Beamtentums. Für dieses galt auf den jahrelangen unteren Rängen „mehr Schein als Sein“, d.h. viele Tätigkeiten für die es früher Gesinde/Angestellte gab, wurden in Ermangelung entsprechender Finanzen auf die Hausfrau übertragen – allerdings unsichtbar. Gerade bei Gastessen für Vorgesetzte durften diese nichts davon bemerken. So gibt es hier den für uns heute sicher skurrilen Tipp, dass bei nicht ausreichendem Besteck für alle Gänge dieses nach dem Abspülen zwischendurch zunächst in kaltes Wasser zu legen sei, damit die Gäste nicht merken, dass sie das gleiche Besteck erneut vorgelegt bekämen (S. 231). 

Entsprechend wandeln sich nicht nur die Ratgeber (die Hausfrau soll im Hause für Ruhe und Frieden, die Erholung des Mannes sorgen, d.h. anfallende Hausarbeiten müssen erledigt sein, wenn dieser „sein Heim“ betritt, eventuellen Kummer darf sie nicht zeigen), sondern zunehmend gehen Entscheidungsbefugnisse auf diesen über. Bekannt sind uns heute Regelungen aus der Ex-BRD zur Berufstätigkeit oder Kontoführung bis in die 70er Jahre allein durch den Mann – im Buch angeführt wird auch, dass der Mann selbst über die Dauer des Stillens entscheiden konnte (S. 176). Die „Stilldebatte“ bzw. der Mythos um das Stillen und dessen Ablehnung (Frauen würden dadurch angeblich nur eine weitere Schwangerschaft hinauszögern wollen) werden ausführlich beschrieben.

Die veränderte Stellung der Frau zeige sich auch in der Wohnstruktur: „Essen fand repräsentativen Salon statt, der ausschließlich für solche Gelegenheiten (Gästebewirtung – V.SL) genutzt wurde, während die eigentlichen Wohnräume kleiner waren. Am kleinsten häufig die Küche – unabhängig von der Vielzahl der Arbeiten, die dort neben der Essenszubereitung durchgeführt wurden – Holz hacken, Abwaschen, Wäsche waschen und bügeln, baden…

Mit der oben beschriebenen, zunehmend geforderten Unsichtbarkeit der Hausarbeit ging deren Entwertung einher. Gleichzeitig wurde der Mythos entwickelt, dass Ehefrauen und Mütter, die diese Arbeit nicht heiter und zufrieden ausführen würden, ihre Familie offensichtlich nicht genug lieben (S. 238). Und zur Liebe gehöre auch, dem Ehemann jederzeit nach dessen Lust und Laune zur Verfügung zu stehen (Anzeichen von Unlust waren ein Scheidungsgrund). In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass u.a. Volker Kauder, Horst Seehofer und Friedrich Merz 1997 gegen das vom Bundestag verabschiedete Gesetz über Vergewaltigung in der Ehe gestimmt haben (S. 241f).

Das vorliegende Buch ist sowohl ein Stück Begriffs- vor allem aber Sozialgeschichte. Spannend im Detail, erschütternd in seinen historischen Fakten, die teilweise bis heute nachwirken.


Luise F. Pusch & Sookee Feminismus und Sprache. Ein Gespräch 


Querverlag Berlin 2021, ISBN 978-3-89656-303-3, 60 S.


Ein kleines Bändchen, das es in sich hat – zielt es doch mitten hinein in die derzeitigen Debatten, wie wir reden und schreiben sollen/dürfen/müssen. Die taz-Redakteurin Patricia Hecht moderierte im Rahmen der feministischen Sommeruniversität 2018 ein Gespräch zwischen der Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch und der Rapperin und antifaschistischen Queer-Fem-Aktivistin Sookee. Da dies noch eine Zeit ohne Coroana war gab es auch live-Publikum, dessen Fragen und die entsprechenden Antworten ebenfalls in den Band aufgenommen wurden.

Die aufgeführten Repliken reichen weit über bloße Sprachanalyse hinaus – sie dokumentieren jeweils auch Lebenswege der beiden Protagonistinnen, ihre steinigen Wege zum Thema, Kuriositäten in diesen Zeiten, Erfolge und Hindernisse.

Seitens der angesprochenen Sprachuntersuchung geht es um Für und Wider von Binnen-I, Gendersternchen, Unterstrich, Knacklaut etc. – ohne abschließende Vorschriften für immer und alle. Dabei sind sowohl die jeweiligen Analysen lesenswert als auch einzelne Bonmots wie „Es ist lästig, die Männer immer mitzuerwähnen“ (Luise F. Pusch, S. 9) – herrlich – diesen Satz werde ich unbedingt bei meinem nächsten Vortrag anführen“. Sookee argumentiert hier übrigens mit der Ökonomie der Zeit (S. 16).

Der Check unserer aktuellen Sprache dreht sich nicht nur um weibliche und männliche Form (fast hätte ich jetzt doch aus alter Gewohnheit die männliche Form zuerst genannt), sondern auch um einzelne Wörter wie „Fräulein“ in den 60er Jahren, aber auch „Mädchen“ oder „Mädels“ für Politikerinnen oder Aktivistinnen. Beide Gesprächspartnerinnen geben Tipps, wie sie in bestimmten Situationen damit mit diesen Bezeichnungen und weiteren Aggressionen umgehen.

Das kleine Heft veranschaulicht gerade durch die gewählte Form des Gesprächs sowohl die Entstehung der feministischen Sprache als auch ein Stück weit die Entwicklung emanzipatorischer Strategien. Es ist der erste Band einer Reihe „in*sight/out*write“, die fortgesetzt wird mit Themen wie „Schminken mit Technow. Die Politik von Drag“, „Sehnsucht nach Subversion. Ein Weckruf“, „Die Lederszene – Ein Ort der Sehnsucht“, „Quere Familien – Eine utopische Betrachtung“. Alles Titel die neugierig machen und zum Weiterlesen anregen.


Annemieke Hendriks Zweites Grab, halber Preis. Eine Geschichte vom Leben und Sterben. 


Eulenspiegel Verlag Berlin, 2021, ISBN 978-3-359-03015-7, 175 S.


In witzig- ironischer Form vergleicht die Autorin Bestattungskulturen und Vorschriften von Deutschland und den Niederlanden. Die freie Journalistien und Buchautorin Annemieke Hendriks ist in Den Haag geboren und lebt seit Jahren in Berlin, wo sie auch ihren Mann bestattet hat. Durch die Organisation der Bestattung und darauf folgende Begegnungen auf dem Friedhof, – mit Menschen und Vorschriften, wird sie auf größere und kleiner Unterschiede in beiden Ländern aufmerksam und hinterfragt diese auf heiter-ironische Art. Die LeserI:iIn muss nicht AnhängerI:iIn der Sepulkralkultur sein, um dies Buch daraus folgende Niederschrift zu mögen. Es ist das Menschliche in ihren Beschreibungen von Begegnungen, – mit dem Friedhofsgärtner, anderen Besuchern und Verwaltungs¬angestellten, – das fasziniert.

Sie gliedert ihr Buch entsprechend der Jahreszeiten und geht daher zunächst vielfach auf die entsprechende Grabpflege ein, bzw. auf Vorschriften dazu, was gepflanzt oder nicht gepflanzt werden darf (kein Gemüse – in Kriegszeiten dann dann aber doch!). Aber auch dDas Laub müsse muss durch den Gärtner auf Anforderung vieler Hinterbliebener in Deutschland immer wieder geharkt werden, obwohl gerade das bunte Herbstlaub doch die Gräber so schön zudeckte.

Bevor jedoch eine Bestattung stattfinden kann sind Behördengänge zu erledigen – dazu muss man jedoch Angehöriger sein: Partner, Geliebte:r, intime Freunde zählen nicht. Und es lauern gerade in Deutschland vor und nach dem Sterben jede Menge weiterer Vorschriften. – hHier vergleicht sie sowohl den Umgang mit „Euthanasie“ in Deutschland und den Niederlanden, als auch Entscheidungen über Art und Ort der Beisetzung. Ihr Credo „die Deutschen müssen offensichtlich auch 75 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges noch vor sich selbst geschützt werden“ (vgl. S. 40). Hier geht es dann auch um (nicht) erzählte Wahrheiten aus dem Familienleben und natürlich um das leidige Thema des Erbens.

Herrlich erfrischend lesen sich ihre Überlegungen dazu, was man auf dem Friedhof darf – Radfahren nicht (auch nicht mit schweren 

Gießkannen am Rad). Lachen schon, aber nicht so laut, nackt Sonnenbaden nicht, picknicken am Grab schon schon … Sie geht auf viele Vorschriften ein, deren Logik und Wert für den heutigen Alltag schlicht nicht mehr nachzuvollziehen sind. Insofern ist das Buch auch eine Zeitreise durch Jahrhunderte – immer wieder verblüffend, irritierend und anregend.


Ellen Händler Uta Mitsching-Viertel Problem ZONE Ostmann? Lebenserfahrungen in zwei Systemen.


 ibidem Verlag Stuttgart, 2021, ISBN 978-3-593-8382-1540-2 330 S.


Die Autorinnen sind im Osten geboren und verfügen wie ihre Interviewpartner über Lebenserfahrungen mit zwei gesellschaftlichen Systemen. Ute Mitsching-Viertel ist promovierte Politiologin, Ellen Händler promovierte Soziologin. Beide befinden sich inzwischen im sog. „Unruhestand“, den sie bereits für eine Vielzahl von Interviews mit Ostfrauen nutzten und 2019, mit dem Band „Unerhörte Ostfrauen: Lebensspuren in zwei Systemen im gleichen Verlag vorstellen. Sowohl bei den Lesungen als auch durch Zuschriften kam der Wunsch auf, etwas ähnliches für Ostmänner zu erhalten und trotz Corona ist dieses Unterfangen gelungen. 

Befragt wurden rund 40 Männer verschiedenster Generationen, „Ausgereiste“ und „Hiergebliebene“, Anhänger und Gegner der  AfD bzw. von Pegida – kurz Männer mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Werten und Ansichten. Viele von ihnen haben diverse Erfahrungen mit Westmännern als Kollegen und Chefs gemacht und geben diese mit deutlichen Worten zu Protokoll bzw. stellen von sich aus Vergleiche zwischen Ost- und Westmännern an.

Neben den Interviews enthält das Buch ein Geleitwort des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg Matthias Platzeck (der trotz Anonymisierung im Interview unschwer zu erkennen ist), „ostmännliche Positionen zu Schwangerschaftsabbruch und Vaterschaftstest“, eine kurze Analyse des Ost-West-Genderdiskurses durch Sylka Scholz (Prof. für Soziologie) und ein Glossar zu DDR-Begriffen, das sicher für jünger oder westdeutsche LeserInnen hilfreich ist.

Die jeweils einer Reihe von Biografien vorangestellten Texte machen die Unterschiede zwischen Ost- und Westmännern prägnant deutlich:

- „Der Ostmann ist durch 40 Jahre DDR geprägt, sein Erfahrungsvorsprung aus beiden deutschen Systemen macht ihn nachhaltig“ (S. 10)

- „Die Arbeit ist für den Ostmann Sinn des Lebens, ein kulturelles Gut und nicht nur Mittel zum Geldverdienen. Der Betrieb war für ihn Lebensmittelpunkt. Aufgrund der Mangelwirtschaft lernte er gut zu improvisieren. Der Verlust von Arbeit führte zu Brüchen männlicher Identitäten“ (S. 72).

- „Für den Ostmann ist Familie selbstverständlich. Obwohl er Gleichberechtigung anerkennt, ist der Familienalltag im Wesentlichen weiterhin klassisch patriarchalisch geprägt“ (S. 114)

- „Die Erinnerung an die Armeezeit spaltet die Ostmänner. Für einen Teil war sie verbunden mit beruflicher Entwicklung, für einen anderen mit Demütigungen“ (S. 232).

Thematisiert werden auch die zahlreichen Scheidungen, trotzdem bleibt bei allen das Credo eines partnerschaftlichen Verhältnisses, bzw. eines „Zusammenlebens auf Augenhöhe“. Immer wieder taucht mit unterschiedlichen Worten die Sequenz auf, dass es doch nicht sein könne, dass „andre einem erzählen, wie man gelebt hat“ – an westdeutsche AdressatInnen gerichtet. Insofern ist dieses Buch ein wichtiges Zeitdokument, dem eine breite Leserschaft vor allem in den alten Bundesländern zu wünschen ist. Dies ist schon deshalb wichtig, weil der „medial-öffentliche Diskurs über die neuen, engagierten oder involvierten Väter … „, so Sylka Scholz in ihrer Analyse, „ein Diskurs über westdeutsche Väter in der bürgerlichen Mittelschicht ist. Ostdeutsche Vaterschaft hingegen ist eine diskursive Leerstelle und wird medial systematisch übersehen“ (S. 316).


Thomas Böhm (Hrsg.) Da war ich eigentlich noch nie. Die Wunderkammer des Reisens in Deutschland. 


Verlag das kulturelle Gedächtnis, Berlin, 2021, ISBN 978-3-946990-50-5, 

320 S.


„Wunderkammer“ ist genau das richtige Stichwort für die wunderschönen Texte, Grafiken und Bilder im vorliegenden Buch. Es weckt sowohl Kindheitserinnerungen, regt zu neuen Reisezielen an und erzählt spannende, kuriose und historische Details aus der Entwicklung des Reisens in Deutschland. Geordnet sind diese Fundstücke nicht systematisch, wie es im Vorwort heißt, sondern nach dem Prinzip der „Wunderkammer“ – d.h. die Leserschaft erlebt immer wieder ungeahnte Überraschungen. 

Klagen der Reisenden aus dem 19. Jahrhundert z.B. über Fahrten mit der Postkutsche muten diese sehr modern an – schlechte Straßenverhältnisse, aufdringliche Reisebekanntschaften, Unfälle, 

Unpünktlichkeit (wer denkt bei letzterem nicht spontan an die deutsche Bahn?). Oder auch die Klagen der Hoteliers gegen diebische Gäste und ihre Versuche dieser „Souvenirmitnahmementalität“ Einhalt zu gebieten (S. 90ff).

Aber genug des Klagens – das Buch gibt auch exzellente Empfehlungen für Besuche und Reisen – sortiert nach Bundesländern oder Genre (Museen, Freizeitparks, Feste, Biergärten, Golfplätze, UNESCO-Welterbestätten – nicht zu vergessen: Bücherdörfer).

Nicht fehlen dürfen natürlich auch Betrachtungen zu Kurreisen mit einer ausführlichen Erläuterung des Begriffs „Kurschatten“ – der es seinerzeit sogar in das medizinische Wörterbuch Pschyrembel geschafft hatte (S. 82ff).

An Reisen mit Kindern und Geschichten für sie während langer Reisen wurde ebenso gedacht wie an das Thema Umweltschutz und Tourismus. Dieses spielte bereits im 19. Jahrhundert eine Rolle.

Kurz: das Buch ist ein „must have“ für alle die gern Reisen und alle die aus verschiedensten Gründen gerade Daheim bleiben müssen.


Carina Landgraf: Vergessener Glanz. Lost Places in Europa 


Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) 2021, ISBN 978-3-96311-176-1, 239 Seiten

 

Der Ausdruck Lost Places wird für Bauwerke der jüngeren Geschichte verwendet, die entweder noch nicht historisch erfasst worden sind oder aufgrund ihrer geringen Bedeutung kein allgemeines Interesse finden. Meist handelt es sich um Ruinen aus der Industrie- oder Militärgeschichte. Die Faszination dieser Orte, die inzwischen viele Menschen zu TV-Dokumentationen, Sachbüchern und Fotobänden inspiriert hat, liegt häufig genau in dieser fehlenden touristischen Erschließung, die Besuchern die Möglichkeit gibt, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen.

Anders hier: die Fotografin Carina Landgraf hat einen Bildband von historisch bedeutsamen Orten geschaffen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht erhalten oder gar restauriert werden konnten. Ihre Aufnahmen lassen diese als verwunschene Plätze erscheinen, die noch heute faszinieren – zum einen durch ihre Geschichte, zum anderen durch die zu erkennende Rückeroberung der Orte durch die Natur. Allen Landschaften, Gebäuden, Räumen bzw. fotografierten Details ist ein Text zu ihrer Geschichte vorangestellt, denn – so die Autorin – „diese spannenden Objekte bergen noch immer die Hinterlassenschaft früherer Generationen und geben gleichzeitig ungeahnte Einblicke in die Historie und Kultur ihres jeweiligen Standortes“ (S. 8). Da ist z. B. ein Wirtshaus in Deutschland, wo ehemals Sommernachtsbälle, Tanz in den Mai, Kirmes oder Herbstfeste stattfanden, das vorgestellt wird, sowie ein altes Friedhofsgelände. In Belgien erwartet die Leser ein Autofriedhof und eine Schule; in Italien ein alter Palast und eine psychiatrische Einrichtung. Aus Österreich bietet sie Industriearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts und ein berühmtes Bankhaus. Spuren des kalten Krieges in Ungarn finden ebenso ihren Platz wie ehemals prachtvolle Bauten in Polen, Tschechien und Luxemburg. 

Die Bilder sind schwer zu beschreiben – frau/man muss sie einfach gesehen haben. Geben sie doch sowohl in ihren Gesamtansichten als auch an Hand zahlreicher liebevoll abgebildeter Details eine nach wie vor beeindruckende Welt wieder, in die man/frau einfach hineinspazieren möchte – einige Aufnahmen erwecken auch den Eindruck, als wäre dies ohne weiteres noch möglich. Das Betreten solcher Orte ist selten rechtlich eindeutig geregelt, manchmal werden auch die damit verbunden Gefahren unterschätzt – insofern recht herzlichen Dank an C. Landgraf für diese Zeitreise in Wort und Bild!


Gine Elsner, Augustes Töchter: Auf den Spuren engagierter Frauen. 


VSA Verlag Hamburg, 2021, ISBN 978-3-89965-040, 461 Seiten

 

Die Autorin Gine Elsner schreibt Familiengeschichte – beginnend mit ihrer Ur-Ur-Großmutter Erdmuthe bis hin zu Ilse Elsner (ihrer Mutter und MdB), vor allem anhand überlieferter Briefe. Es ist jedoch nicht nur ein biografischer Text, sondern vor allem eine beeindruckende Beschreibung des Lebens sogenannter „einfacher Menschen“ über Jahrhunderte, und der jeweils herrschenden Sitten und Gesetze. Es handelt vom schweren Leben von Frauen in diesen Zeiten, ihrer systematischen Unterdrückung und Missachtung – und dem Aufbegehren dagegen. Es ist nicht nur ein Stück Geschichte der deutschen Frauenbewegung, sondern Deutschlands insgesamt. Durch die umfangreiche Recherche der Autorin wird auf die Weltkriege und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben ebenso eingegangen, wie z. B. auf die jeweilige Bildungspolitik (insbesondere die Reformbewegung und die Gründung erster weltlicher Schulen); es werden Liedtexte und andere Kunstformen rezipiert (z. B. Tagebücher Erich Kästners); der Kampf der Frauen um sichere Verhütungsmittel sowie Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch, um das Frauenwahlrecht, etc. Somit ist es nicht nur Familiengeschichte, sondern vor allem ein zeitgeschichtliches Panorama – beginnend 1883 mit den ältesten erhaltenen Briefen, bis in unsere Zeit hinein. Der letzte Passus lautet: „Die Parlamentarierinnen fordern die Hälfte der Abgeordnetenmandate für Frauen. Dazu gibt es noch immer Bedenken. Wen wundert‘s“ (S. 430).

Manche Fakten zur Vergangenheit der alten BRD würden vor allem DDR-sozialisierte Frauen sicher eher in den Beginn dieser Darstellung einordnen, als in die 70er Jahre – so z. B. die Novellierung des Nichtehelichen-Rechts erst 1969 (bis dahin konnte die Mutter nur bei „guter Führung“ die elterliche Gewalt ausüben); eine völlige Gleichstellung außerhalb der Ehe geborener Kinder mit ehelichen, war damit immer noch nicht erreicht – u. a. im Erbrecht.

Die vielfältigen detaillierten Untersuchungen werden durch zahlreiche Abbildungen illustriert – so der Geburtenrückgang von 1875 bis heute (S. 63). Er war damals nicht im Sinne der Sozialdemokratie, wegen fehlender „Revolutionäre“ (Clara Zetkin), und ist es heute nicht bei der AfD, wegen „aussterbender deutscher Bevölkerung“. Gesundheitspolitik spielt insgesamt eine große Rolle in diesem Buch – u. a. gibt es einen Appendix zum Gesundheitswesen in Berlin-Neukölln (S. 87). Genauso spannend liest sich die Entwicklung des Universitätsstudiums für Frauen am Beispiel Hamburgs (S. 142), bzw. zur Promotion von Ilse Elsner. Gleichfalls analysiert wird das Wahlverhalten von Frauen seit 1919 (S. 75 ff), denn damals wie heute ist es nicht wie häufig angenommen so, dass Frauen bevorzugt ihre Geschlechtsgenossinnen wählen. 

Die politischen Untersuchungen gehen weit über Deutschland hinaus – in den Darlegungen zum 2. Weltkrieg wird u. a. auf Norwegen und die Kollaboration von Norwegern mit Deutschen in Norwegen eingegangen (Ausgangspunkt für diese Recherche war der Einsatz von Alfred Elsner, einem der stets mit beschriebenen Ehemännern der Elsner-Frauen).


Fazit: Das Buch beschreibt ein Stück Zeitgeschichte, deren Wirkungen bis heute spürbar sind, und fasziniert durch seine Mischung von persönlicher Geschichte und „harten Fakten“.


Torsten Körner:  In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten.


Kiepenheuer & Witsch Köln, 2020 ISBN 978-3-05333-3, 362 Seiten 


Das Buch ist eine packende Darstellung des steinigen politischen Wirkens von Frauen in der BRD, ihrer Biografien und der Geschichte des Bundestages. Die Lektüre ist ungeheuer spannend – zugleich macht sie wütend, wenn z.B. über solche Details berichtet wird, wie das Wetten einiger alter Herren im Bundestag, ob eine bestimmte Abgeordnete einen BH trägt und dies auch noch handgreiflich coram publicum geprüft wird (S. 137).

Der Autor, Fernsehkritiker, Journalist und Dokumentarfilmer Torsten Körner, hat akribisch nicht nur die Lebenswege von Frauen in den deutschen Bundestag hinein nachgezeichnet, sondern zitiert und analysiert auch die von ihnen angestoßenen Debatten, sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten und Beleidigungen durch die eigenen und fremden Fraktionskollegen. Schon im Vorwort beschreibt er den Umgang mit ihnen und zeigt im weiteren an Hand zahlreicher Beispiele aus allen Fraktionen deutlich, dass es keine einmaligen Entgleisungen waren, sondern systematisches Mobbing und der Versuch, bestimmte Themen gar nicht erst zuzulassen . Er schätzt ein: „Frau soll zum Schweigen gebracht werden. Die Frau soll nicht sagen dürfen, was sie zu sagen hat. Wenn Frau im Parlament spricht, soll sie sprechen, wie Männer sprechen. Sie soll nicht als Frau auffallen, sie soll sich einordnen, sie soll sprechend schweigen. Kein Wort soll fallen von Diskriminierung, Gewalt oder gar Vergewaltigung in der Ehe oder fehlender Chancengleichheit“ (S. 8).

Torsten Körner holt auch die 4 Mütter des Grundgesetzes wieder aus der historischen Versenkung. Diese wurden lange Zeit als nicht erinnerungswürdig angesehen. „Schließlich waren es ja Jahrzehnte überwiegend die Männer, die auf das Schreiben der politischen Artikel, Geschichten, Essays, Lexika und Kommentare spezialisiert waren, es waren Männer, die politische Dokumentationen oder Features machten…“(S. 31). Dies zeige sich bis heute z.B. darin, dass nur sehr kleine Straßen nach ihnen benannt wurden. „Das Zipfelchen Straße, das Bonn Elisabeth Schwarzhaupt in Ückersdorf gönnt, ist kläglich, gemessen an ihrer historischen Bedeutung. Die erste Bundesministerin der Republik wird durch die Benennung ebenso marginalisiert, wie Adenauer sie einst marginalisieren wollte, als der Kanzler sie im Kabinett stets nur mit `Fräulein` anredete… Und auch Helene Wessel und Frieda Nadigs, zwei der vier Mütter des Grundgesetzes, wirken hier, vor den Toren der Stadt, verloren, ihre Namen zerfallen zu einsamen Buchstaben, die sich weder mit der Landschaft, den Häusern noch den Menschen in ihnen verbinden. Wer so Erinnerung stiften will, betreibt stattdessen Entsorgung“ (S. 264-265).

Diese „Entsorgung“ hat, wie der Autor vielfach nachweist, Methode –dem Autor gebührt großer Dank dafür, dass er sich dem entgegenstellt hat und die deutsche Geschichtsschreibung um ein spannendes Kapitel bereichert hat!

Und es bleibt das Resümee: Frauen haben sich nie einschüchtern lassen, ihre Themen und ihre Sprache einzubringen und natürlich ihre Anliegen – z.B. die Verhüllung des Bundestages. Auch wenn sich heute Männer mit dieser gelungenen Aktion schmücken, so war es Rita Süssmuth, die dies ermöglicht hat (S. 267ff) – was (wen wundert`s)  heute in den Berichten zu dieser Aktion kaum


Sabine Friedrich      Was sich lohnt. 


dtv Verlag München, 2021, ISBN 978-3-423-28257-4, 414 Seiten 


Das vorliegende Buch ist der zweite Teil einer Romantriologie über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus – genauer: den Widerstand vorwiegend aus Adels- und bürgerlichen Kreisen. Der erste Band („Einige aber doch“) beschäftigt sich mit der „roten Kapelle“ – einer Gruppe von ca. 150 Personen, von denen die meisten einen ethisch motivierten Sozialismus anstrebten. Am bekanntesten sind die Namen Harro Schulze-Boysen und Adolf Harnack.

Der hier vorliegende zweite widmet sich dem „Kreisauer Kreis“ (benannt nach dem niederschlesischem Gut Kreis des Helmut James Graf von Moktke. Neben ihm sind es Männer wie Peter Yorck Graf von Wartenburg oder auch Adolf Reichwein, die eine Rolle spielen, bzw. deren Frauen – so vielfach die Ankündigungen zu diesem Band. Leider erfahren die Lesenden jedoch häufig nur, dass die Frauen durch ihre Anwesenheit den Zusammenkünften den Anschein privater Treffen verleihen. Kurz werden Dinge angeführt, wie der Transport von geheimen Unterlagen durch Freya von Moltke und Marion Yorck von Wartenburg oder der Versuch Clarita von Trott zu Solz, gefährliche Papiere bei Eintreffen der Gestapo noch schnell verbrennen zu können. Am ausführlichsten wird noch der Kampf Annedore Lebers um die Befreiung ihres Mannes aus der Haft dargestellt. Ansonsten geht es um Leidenschaft – zum Mann – den Kindern oder dem Gut. Eigene Ideen und Pläne für ein anderes Deutschland scheinen die Frauen nicht gehabt zu haben, wenn überhaupt in den Zitaten bzw. Briefen Überlegungen dazu auftauchen, so sind diese Unterstützungserklärungen für das Anliegen der Männer. Schade, hier hatte ich mehr erwartet. Das wird jedoch weniger an der Autorin liegen, sondern an der vorhandenen Überlieferung von Dokumenten und Gesprächen – die in der Vergangenheit eben männlich fokussiert war.

Der Roman beginnt 1912 mit der Kindheit einiger Protagonisten (wieder überwiegend nur der männlichen). In großen Zeitsprüngen geht er dann fort bis zum Ende der 20er Jahre, ab hier wird es detaillierter. Die Erzählweise ist etwas ungewöhnlich, es werden nicht 

Lebensläufe als Handlungsstränge erzählt, sondern Ort- und Zeitsprünge zu anderen Personen gemacht. Eine beigefügte Orientierung am Ende des Buches erleichtert allerdings das Zurechtfinden zwischen Familienbanden, Gruppierungen und Ortschaften. 

In den Gesprächen geht es nicht nur um (letztendlich nicht genutzte) Möglichkeiten zu Veränderungen in Deutschland, sondern in Europa. Teilweise geht es allerdings nur um die Beseitigung Hitlers, ohne dass eine klare Nachkriegsordnung erkennbar wäre. Vieles erscheint uns Heutigen auch von vornherein unrealistisch bzw. wenig sinnvoll – allerdings kennen wir LeserInnen ja den Ausgang der Geschichte. 

Am spannendsten für mich war die Entwicklung Dr. Harald Poelchaus, Gefängnispfarrer in den Strafanstalten Tegel und Plötzensee, der die zum Tode Verurteilten in ihren letzten Stunden begleitet hat (teilweise auch gegen den Willen ihrer Richter).

Die an der Ideenwelt dieser Kreise interessierte Leserschaft darf auf den 3. Band („Was sich lohnt“) und das Eintauchen in eine andere Gedankenwelt gespannt sein.


 Dr. Eckhart von Hirschhausen

Mensch, Erde! wir könnten es so schön haben



dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München 2021, ISBN 978-3-423-28276-5, 529 S.


„Wenn Bäume weglaufen könnten, wären sie dann noch hier?“ (S. 205) lautet eine der vielen ungewöhnlichen Fragen, denen der Autor in 12 Kapiteln nachgeht. Er versteht dieses Buch als Reisebericht, nicht als Endergebnis (S. 18), deshalb finde frau/man hier „eine wilde Mischung aus Sachinformation und Geschichten, Politisches und Poetisches“ (S. 13) – natürlich nachhaltig hergestellt, d.h. kein Schutzumschlag, keine Einschweißfolie, kein Mineralöl in den Farben – oder wie der Autor treffend zusammenfasst „kein Scheiß“ (S. 526). Er will uns schließlich anregen, über scheinbar Alltägliches nachzudenken und zu entscheiden – im Sinne „das kann dann mal weg“, um so als Einzelne/r einen Beitrag zum Erhalt unserer Heimat Erde, von der wir nur eine haben (und auch keine heimliche Reserve irgendwo da draußen) zu leisten. Auch wenn Deutschland als kleines Land nur 2% der weltweiten Emissionen einsparen würde und dies scheinbar nicht viel bringt – was wäre von 50 kleine Länder jeweils 2% einsparen würden? so lautet eine weitere der vielen Fragen.

Eckart von Hirschhausen stellt jedoch nicht nur Fragen, er macht auch Vorschläge und gibt Anregungen – so z.B. mit folgenden fünf einfachen Sätzen: „1. Die Klimakrise ist real und gefährlich. 2. Wir Menschen sind die Ursache. 3. Wir Menschen könnten etwas ändern. 4. Die Fachleute sind sich einig. 5. Es gibt noch Hoffnung.“ (S. 73).

 

Seine Aussagen belegt er in verständlicher Form und mit zahlreichen eindrucksvollen Abbildungen – sowie mit Beispielen von Menschen, die für sich schon Dinge verändert haben. Dabei trifft die/der LeserIn Personen und Ideen aus seinen Sendungen wieder: z.B. Sarah Wiener auf ihrem Bauernhof in der Uckermark. Bei ihr kann frau/man lernen, dass „die Kuh gar kein Klimakiller ist, sondern dass wir Menschen sie mit unserem exzessiven Fleischkonsum erst dazu gemacht haben“ (S. 144). Das Thema (falsche) Ernährung / Lebensmittelverschwendung wird ebenfalls in 5 plausiblen Punkten zusammengefasst und Wege zur Veränderung aufgezeigt - wie: „4. In Deutschland werden Menschen bestraft, die noch brauchbare Lebensmittel aus Containern hinter dem Supermarkt entnehmen. 5. In Frankreich werden Supermärkte bestraft, die noch brauchbare Lebensmittel nicht an gemeinnützige Organisationen spenden oder sie selbst weiter verwenden“ (S.168). Auch interessant (und für mich neu): ab Mitte April sind Überseeäpfel klimafreundlicher als Einheimische, da diese seit ihrer Ernte gekühlt werden müssen (S. 171).

Die Allgegenwart und Auswirkungen von Mikroplaste sind ebenso ein Thema wie unser Umgang mit Bekleidung und Reisen. Sein Vorschlag: „neue Komplimente braucht das Land“. Statt „Hübsches Kleid. Ist das die neue Collection?“ – „Hübsches Kleid. Das hattest du doch neulich auch schon an“ (weitere auf S. 312).

Neben noch vielen anderen Themen gibt es zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literaturstellen und seine Stiftung, denn viele Zahlenangaben und Entwicklungen sind beim Schreiben, Drucken und Lesen des Buches schon wieder fortgeschritten. Packen wir´an!

PS – vorher noch mein Lieblingssatz: „Wenn man die Notfallschokolade im Schreibtisch durch Notfallmöhren ersetzt, treten gar nicht mehr so viele Notfälle auf“ (S. 399)



Christian Blasge 

Der Mensch als Rohstoff. Zwischen künstlicher Intelligenz und persönlicher Optimierung. 


Promedia Verlag Wien 2021, ISBN 978-3-85371-485-0, 261 S.


Hier geht es nicht um Schönheitsoperationen oder andere individuelle Veränderungen an Einzelpersonen, sondern um nichts geringeres als um den „Versuch, eine grobe Skizze der Zukunft der Menschen zu zeichnen“ (S. 241).

Christian Blasge, Schullehrer und Fachlehrer im Bereich Ethik, Bewegung und Sport, leitet seine Überlegungen mit der Frage ein „Was ist Philosophie und welche Aufgabe hat sie?“. Keine Angst – dieser Abschnitt ist sehr kurz (er umfasst nur 4 Seiten) – legt jedoch Grundlagen für das Verständnis für die vom Autor im weiteren herangezogenen Texte historischer und aktueller Personen. Ausgangspunkt sind bereits in den 1950er Jahren aufgetauchte Überlegungen dazu, „ob der Mensch nicht mittlerweile hoffnungslos antiquiert, also überholt sei, da ihm die Technik den Rang abgelaufen habe“ (S. 15). Der Medien- und Technikphilosoph Günther Anders, von dem diese provokante Frage stammt, entwickelte dazu drei zentrale Thesen: „(1) Wir sind der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen; (2) wir stellen mehr her, als wir vorstellen und verantworten können; und (3) wir glauben, alles, was wir können, auch zu dürfen, zu sollen, ja sogar zu müssen“ (S. 17). Bei seiner Bearbeitung dieser Thesen bezieht Ch. Blasge im weiteren dann den 2013 erschienen Roman „The circle“ von Dave Eggers mit ein. Zunächst stellt er jedoch den Stand der Forschung auf den Gebieten der Gentechnik, Nanotechnik und Robotik dar um dann die treibenden Kräfte des weltweiten Optimierungswillens zu analysieren. Dabei nimmt die Denkschule des Transhumanismus einen breiten Raum ein (ein transhumanes Wesen soll die Grenzen der menschlichen Natur überwinden können). Einer der Wegbereiter dieser Denkrichtung war Friedrich Nitzsche, dessen Ideen entsprechend umfangreich analysiert werden. 

Eine grundlegende Einschätzung heutiger Technikentwicklung ist, dass „unsere Welt … in erster Linie nicht mehr menschenfreundlich, sondern zunehmend maschinenfreundlich transformiert (wird), sodass Maschinen ihre Arbeit effizient aufnehmen können“ (S. 198). Davon ausgehend wird vor weiteren Gefahren in der gesellschaftlichen Entwicklung gewarnt – fehlende Rücksichtnahme auf die eigene körperliche Gesundheit, da ja Organe beliebig mittels 3D-Technik „nachgeordert“ werden können; mangelnder Datenschutz – oder das weitere soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft, da sich bestimmte Optimierungsleistungen nur reiche Menschen leisten können. Dies würde nach Meinung Ch. Blasge´s den sozialen Frieden gefährden (erste Anfänge dieser Entwicklung erleben wir bereits bei der Inanspruchnahme privat zu bezahlender künstlicher Befruchtung und Pränataldiagnostik im Ausland).  

Die dargestellten Möglichkeiten und Utopien dieser Optimierung reichen bis zu einer „andauernden Existenz ohne physischen Körper“. Kurzum, der Autor macht ein Panorama von bereits (zumindest in Ansätzen) vorhandenen neuen technischen Möglichkeiten auf, deren Konsequenzen so erschreckend wie faszinierend zugleich sind. Daher bedürfen sie einer breiten gesellschaftlichen Diskussion bzw. eines neuen Gesellschaftsvertrags.


Jessica Bock 

Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980 – 2000 


Mitteldeutscher Verlag Halle-Saale 2020, ISBN 978-3-96311-395-6, 460 S.


Frauen(gruppen) spielten in der DDR-Opposition und in den Bürgerbewegungen eine zentrale Rolle – dem steht bisher ihre geringe Rezeption gegenüber. Die Dissertation und das vorliegende Buch widmet die Historikerin diesem Desiderat der zeitgeschichtlichen Forschung. Die Stadt Leipzig befand sich vielfach im Zentrum der informellen Frauenbewegung der DDR und des Umbruchs 1989. Deshalb stehen die Ereignisse, Gruppierungen und Vernetzungen in dieser Stadt im Zentrum der Darstellung. Dazu entwickelt sie zunächst einen eigenen Frauenbewegungsbegriff, da die Entwicklungen in Ost und West nur bedingt vergleichbar wären (So sei es z.B. für die Emanzipationsutopien der Ost-Frauen typisch gewesen, Männer mit einzubeziehen: auch der Feminismusbegriff wurde vielfach abgelehnt). Zu häufig wäre in der Vergangenheit die Frauenbewegung der Ex-BRD zum Maßstab genommen worden um dann zu schlussfolgern, dass es in der DDR keine Frauenbewegung gegeben habe. Forschungsleitend sind für die Autorin dabei zwei Thesen: 1. die Gruppierungen in und um Leipzig hätten die diktatorische und patriarchalische Herrschaft infrage gestellt und stets versucht Erfahrungs- und Handlungsspielräume für Frauen zu schaffen und zu erweitern sowie 2. „Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Wahlniederlage des Unabhängigen Frauenverbandes führten nicht zu einem Ende der nichtstaatlichen beziehungsweise ostdeutschen Frauenbewegung. Im Gegenteil… „ (S. 22)

Zu Beginn stellt J. Bock dar, dass es für die DDR typisch war, Lebenssituationen und Probleme literarisch zu bearbeiten.

Bei der sehr detaillierten Darstellung von Personen, Gruppierungen und Aktivitäten räumt J. Bock auch verschiedenen Mythen auf, so z.B. dass Frauen(gruppen) sich vor allem unter dem Dach (und dem Schutz) der Kirche gegründet und getroffen hätten. Vielmehr sei dieses Verhältnis konfliktbeladen gewesen. Und auch die Runden Tische des Bezirks und der Stadt Leipzig hätten zu keinem Bruch mit den patriachalen Verhältnissen geführt (vgl. S. 276). Allerdings seien es bereits damals nicht nur Männer gewesen, die eine Quotierung abgelehnt hätten.

Spannend ist außerdem zu lesen, dass die Beschreibung der Fraueninitiativen nicht 1989 endet, sondern bis zum Jahr 2000 fortgeführt wird – inklusive einer Analyse des Scheiterns der UFV in den ersten gesamtdeutschen Wahlen und der geringen Resonanz des Frauenstreiktages am 8. März 1994. Gerade ostdeutsche LeserInnen (wie die Rezensentin) erinnern sich dazu an wenig gelungen bzw. gescheiterte Aktionen –so z.B. an die nur mäßig wahrgenommene Blockade der Autobahnzufahrt zum Einkaufspark Günthersdorf an jenem 8. März, oder der verlorene Kampf um den Erhalt des Henriette- Goldschmidt-Hauses in Leipzig.

Die vorgelegte Studie ist eine lokale. Es ist ihr nicht nur großes Interesse seitens der AktivistInnen und anderweitig Interessierten zu wünschen, sondern vor allem auch eine Weiterführung zu anderen Städten. Dies schon deshalb, weil Frauen hier nicht als Opfer der Transformation, sondern als Handelnde, als Akteurinnen mit ihren ganz eigenen Erfahrungen, Konzepten und Strategien vorgestellt werden.


Gabriele Winker 

Solidarische Care Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik und Klima 


transcript Verlag Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5463-9, 211 S.


Die Sozailwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution (care-revolution.net-org) legt mit diesem Buch das zweite umfassende Werk (das erste „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft wurde 20… vom gleichen Verlag herausgegeben) vor. Der vorliegende Text ist nicht nur eine Weiterführung der damaligen Überlegungen, er führt vor allem die care und die Klimabewegung zusammen. Ausgangspunkt dafür ist ihre Überlegung, dass care-Beschäftigte und familär Sorgearbeitende auf hinreichend intakte Ökosysteme angewiesen sind (s. S. 11). Die notwendigen Voraussetzungen dafür würden sich jedoch ohne einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in den nächsten Jahrzehnten deutlich verschlechtern (s. S. 69). Kapitel 3 beschreibt dies ausführlich, Kapitel 4 wendet sich der Erschöpfung menschlicher Ressourcen zu. Dazu analysiert sie das Verhältnis von bezahlter Lohnarbeit und unbezahlter Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit. Insbesondere betont sie nochmals eine Erkenntnis der feministischen zweiten Frauenbewegung, dass „je mehr Reproduktionsarbeit, die den Kauf von Waren ersetzt, unentlohnt neben der Lohnarbeit geleistet wird, desto geringer wird der Wert der Arbeitskraft“ und der Mehrwert erhöht sich (S. 71). Ziel könne jedoch nicht die zunehmende Entlohnung aller Arbeit sein (denn dies würde ihre Wahrnehmung als Ware bedeuten und zu einer Effizienzspirale führen und damit zu Ungunsten der zu Versorgenden ausschlagen), sondern die Zurückdrängung der entlohnten Arbeit (vgl. S. 92). Außerdem führe dies zu einem zunehmenden Zwang zur Selbstoptimierung. 

Für die von Care Revolution (und damit der Autorin) angestrebte transformative Politik sieht sie vier zentrale Aufgaben: 1. Die drastische Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit um mehr Zeit für Sorgearbeit verfügbar zu machen und damit gleichzeitig einen Rückbau ökologisch schädlicher Produktion zu ermöglichen; 2. Den Aufbau einer solidarischen Unterstützungsstruktur: 3. demokratische Strukturen vor Ort, damit die Bedürfnisse aller wahrgenommen werden und alle mitentscheiden können und 4. die Entwicklung von Gemeinschaftsprojekten (s. S. 138-139). Zu erstgenanntem Punkt sei insbesondere die Reduzierung von Vollzeiterwerbstätigkeit notwendig. Natürlich sei dies auch notwendige Voraussetzung nicht nur für Sorgearbeit (gemeint ist dabei immer Selbstsorge sowie Sorge für andere) sondern auch Zeit für die unter Punkt 3 genannte Teilhabe an demokratischen Strukturen zu haben. Zu Punkt 2 gehöre der Aufbau einer sozialen Infrastruktur, bisher sei diese in hohem Maße nur  auf die Unterstützung von Erwerbstätigkeit ausgereichtet. Zu Punkt 4 werden dann eine Reihe von kooperativen Organisationsformen vorgestellt, die bereits erfolgreich arbeiten. Dabei habe sich gezeigt, dass dies primär keine Motivationsfrage sei (wie häufig angenommen), sondern vor allem eine Frage der Organisation in einer Gesellschaft „in der es keinen Markt und keine staatliche Planung mehr gibt, die Koordination zwischen Beiträgen und Bedarf zu organisieren“ (S. 176). Konsequent plädiert sie daher auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen.


Barbara Peveling Nikola Richter (Hg.) 

Kinderkriegen. Reproduktion reloaded 


Edition Nautilus GmbH Hamburg 2020 ISBN 978-3-96054-253-7   351 S.


“26 essayistische Erfahrungsberichte werfen Schlaglichter auf aktuelle Fragen rund um Reproduktion und Familie“ heißt es auf dem Waschzettel. Einige von ihnen sind verstreut in anderen Publikationen bereits erschienen – den Reiz dieses Buches macht daher gerade die Zusammenstellung dieser vielstimmigen Texte von Frauen und Männern mit und ohne (gewollte und ungewollte) Kinder aus. Anstelle eines Vorworts steht ein Chat dreier Frauen, der die Idee und Umsetzung dieses Buches beschreibt und bereits den Finger auf eine Reihe von Defiziten unserer aktuellen Familienpolitik legt. So heißt es z.B. etwas überspitzt: „Der Frauenkörper wird stetig überwacht, verwaltet und auch verkauft, bis hin zu Leihmutterschaften, aber die Mutter mit dem Kind wird eher alleine gelassen“ (S. 11).


Im Text werden nicht nur die modernen Reproduktionstechnologien thematisiert, sondern auch die davor auftretenden persönlichen und gesellschaftlichen Fragen – u.a. „ob die Welt wirklich noch ein Kind braucht und wenn ja, von mir?“ (vgl. S. 27). Erfreulicherweise wird bei diesen gesellschaftspolitischen Fragen die „deutsche weiße“ Perspektive verlassen und ebenso nach anderen Ethnien gefragt bzw. rassistische Vorurteile gegen Mutter und Kind angesprochen.

Die jeweiligen Erzählungen bieten dabei nicht nur tiefe sehr persönliche Einblicke zur Entscheidung für oder gegen ein (weiteres) Kind, sondern außerdem in zurückliegende Entwicklungen der Ex-BRD (leider fehlt entsprechendes für die DDR). Interessant dabei die beschriebene Wandlung: „Man braucht keine Gründe mehr um zu verhüten, man braucht im Gegenteil einen Grund, um schwanger zu werden“ (S. 82). Ferner wird die „Logik des zweigeschlechtlichen Systems“ hinterfragt (S. 84) und an dieser Stelle auf ungenügende Forschungsdesigns zum Reproduktionsgeschehen. So würden Männer bzw. Väter häufig nicht mit eingezogen. 

Spannend zu lesen ist der Essay „Auch tote Kinder werden groß“ – ein im Zusammenhang mit Reproduktionsmedizin meist wenig beachtetes Thema. Hierzu wäre gleichfalls eine geschlechterdifferenzierte Perspektive in der Forschung interessant, denn die Autorin dieses Essays resümiert: „Doch heute hat mein Mann zwei Kinder, ich drei. Das ist der Unterschied“ (S. 118).

Angesprochen werden daneben Themen wie Leihmutterschaft im Ausland, behinderte Frauen als Mütter (hier fehlt wiederum das männliche Pendant), Abtreibung, Pränatest.

Das Buch bietet durch seine unkommentierten sehr persönlichen Erzählungen viel Stoff für anregende Diskussionen und eigenes Nachdenken. Gerade weil es technische Details ausspart und stattdessen die Gefühlswelt der einzelnen Personen zu Wort kommen lässt, regt es dazu an.


Christine Wimbauer 

Co-Parenting und die Zukunft der Liebe. Über post-romantische Elternschaft. 


transcript Verlag Bielefeld 2021 ISBN 978-3-8376-5503-2   259 S.


Der Fokus des Buches, so die Autorin, liegt auf einer besonderen Beziehungsform von zwei (oder mehr) Menschen, die sich nicht lieben, jedoch zusammen eine Familie gegründet haben. Das können verschiedene Konstellationen sein – ein lesbisches Paar, das mit einem Mann oder einem Männerpaar eine Familie gründet; einzelne Personen, denen die Anforderungen des Studiums oder Berufes keine dauerhafte Liebesbeziehung erlauben; ein Paar, dessen einer Teil kein Kind möchte oder jemand, der von früheren Beziehungen enttäuscht ist…

Im Buch werden zunächst das Leit- (oder Leid-)bild der romantischen Liebe in der Geschichte vorgestellt, Stärken, Herausforderungen und Fallstricke der modernen Kleinfamilie um dann den Begriff co-parenting sowie die Vor- und Nachteile dieser Beziehungsform zu erläutern. Dabei wird sowohl auf fehlende bzw. mangelhafte gesetzliche Grundlagen für diese Elternschaft eingegangen sowie auf bisher wenig vorhandene Forschungen zu diesen Familienkonstellationen.

Zum Begriff arbeitet die Soziologin Ch. Wimbauer heraus, dass Co-Parenting vor allem den aktiven Aspekt des gemeinsamen Erziehens von Kindern und weniger den Status von Elternschaft betont (vgl. S. 89); schon gar nicht ginge es um romantische Liebesbeziehungen zwischen den Eltern. Insofern geht die Autorin zunächst den Fragen nach, was Menschen dazu bringt, eine Co-Elter-Familie zu gründen, welche Hoffnungen und Ängste mit dieser Entscheidung verbunden sind. Außerdem wird gezeigt, dass Co-Parenting theoretisch wie empirisch mehr Geschlechtergleichheit und Abhängigkeit erzeugt (s. S. 117ff). Gleichzeitig ist diese Beziehungsform pragmatischer und von „so manchem Erwartungsballast befreiter“. Die ausgedehntere Verteilung der Verantwortung ist dabei nicht nur durch mehr Schultern der Eltern gegeben, sondern auch durch eine größere Zahl von Großeltern, Onkeln, Tanten etc. Dadurch wird auch die Isolationsgefahr für Mutter oder Kinder  „in der kleinbürgerlichen heimischen Abgeschiedenheit“ geringer und es gibt „keinen emotionalen, verschleiernden Kitt, der soziale Ungleichheiten und ungleiche Anstrengungen im Namen der Liebe unsichtbar machen könnte“ (S. 162). Abhängigkeiten von einem männlichen Familienernährer sind kaum vorhanden, allerdings zahlreiche gesetzliche Defizite (z.B. hinsichtlich Adoption, Entscheidungen im Krankheitsfall, Erbschaft etc. bei „Ausfall“ eines Elternteiles).

Am Ende des Buches wird ausführlich auf diese Schwierigkeiten (und deren mögliche Regelungen) eingegangen sowie auf notwendige weitere Forschungsfragen -  u.a. wie ist „das Verhältnis der Co-Eltern zueinander? Wie finden diese Familien ihre Handlungsroutinen und welche sind das? Wie werden Aushandlungen geführt und welche sind das?“ (S. 243). Noch spannender wird es, wenn der eurozentristische Blick verlassen wird und eine länder- gesellschafts- und kulturübergreifende Analyse gewählt wird. Sowohl diese als auch viele weitere anregende Diskussionen sind diesem Forschungsgegenstand bzw. Buch zu wünschen!



Lou Zucker 

Clare Zetkin Eine rote Feministin 


Verlag das Neue Berlin 2021 ISBN 978-3-360-01348-4 151S.


Die Journalistin Lou Zucker hat eine neue Biografie zu Clara Zetkin geschrieben. So etwas geschieht öfter. Was dieses Buch aus der Reihe „üblicher“ Biografien heraushebt ist erstens seine Aufmachung: ganze Seiten im Lila des Feminismus mit spritzigen aktuellen Bonmots wie z.B. „Der Feminismus ist innerhalb weniger Jahre vom Coolness-Level von Wollsocken und Dinkelnudeln aufgestiegen zu etwas, womit man seinen Instagram-Account schmücken, sein Unternehmen als tollen Arbeitsplatz präsentieren, sein Produkt verkaufen kann“ (S.7); zahlreiche Bilder und Faksimiles (diese wohltuend so groß gedruckt, dass sie bequem lesbar sind); lange hervorgehobene (natürlich ebenfalls lila) Auszüge aus ihren Reden und Texten, eine Zeitleiste (Farbe muss ich nicht mehr nennen) und und und.

Zweitens ist dies m.E. die erste biografische Arbeit, die Clara Zetkin konsequent in die Reihen des Feminismus stellt – ohne sich dabei in theoretischen Begründungen dafür zu ergehen, sondern schlicht durch Erzählungen über ihr Leben („wilde Ehe“ mit einem 15 Jahre jüngeren Mann und viele andere Episoden) bzw. ihre Ansichten zur Frauenfrage in der Arbeiterpartei – gegen vielfältigen Widerstand ihrer damaligen Genossen (hier steht bewusst nur die männliche Form). So war sie nicht nur eine der ersten Rednerinnen auf Arbeiterversammlungen überhaupt, sondern trug auch entscheidend bei zur Erringung des Frauenwahlrechts. Initiierung öffentlicher Frauenversammlungen am Frauentag (wie überhaupt dessen Durchführung in Deutschland) gehörten ebenso zu ihren Aktivitäten wie die jahrelange Betreuung der „Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“ („Aktivitäten“ – ist hier der korrekte Begriff, da Clara Zetkin nicht nur die meisten Artikel selbst schrieb, sondern diese auch redigierte, zur Druckerei trug, sich um Abonnentinnen kümmerte etc.). 

Eine der Fragen, der sie sich zuwandte, war der Kampf gegen den § 218. Clara hatte sich schon immer gegen diesen, aus der Kaiserzeit stammenden Paragrafen ausgesprochen – NB auf Versammlungen mit über 4000 Zuhörerinnen. Auch in den Mitte der 20er Jahre in der Sozialdemokratie aufflammenden Debatten über einen Gebärstreik stellt sie sich konsequent auf die Seite der Frauen: „Es ist Quacksalberei, …wenn man dem Proletariat als dessen revolutionäre Waffe neben der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung den Gebärstreik anpreist. Das ist eine bürgerliche … anarchistische Auffassung, denn sie betrachtet nicht das Proletariat als Klasse, sondern die einzelne Familie und schlägt statt der Massenaktion eine bestimmte individuelle Lebensgestaltung vor“.  Und: „Was nützt den Frauen das Wahlrecht, wenn sie nicht einmal über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen?“. Ein Satz, der heute noch genauso aktuell ist, wie vor 100 Jahren! Möge er auch am diesjährigen 8. März weltweit erschallen – auf Demos und Versammlungen mit und ohne Maske, jedoch mit vielen Frauen!


Margarete Wein 

Das kleine Schwarze – ein rotes Tuch. Ein Spaziergang durch die Welt der Farben 


Edition Noack &Block Berlin 2020 ISBN 978-3-86813-107-4, 389 S.


Auch wenn frau kein „kleines Schwarzes“ besitzt wird sie dieses Buch mit Gewinn lesen, denn anders als der großgedruckte Titel und das Cover assoziieren geht es in diesem Buch nicht um (Damen)Mode, sondern wie der kleingedruckte Untertitel angibt um einen „Spaziergang durch die Welt der Farben“. Dabei kommt dieser Parcoursritt durch teilweise ermüdend lange Aufzählungen von Farbnamen (hier wäre weniger mehr gewesen) ganz ohne Bilder aus und lässt somit der eigenen Phantasie freien Lauf.

Das Buch gliedert sich nicht nach Farben (Ausnahmen: es gibt jeweils eigene Kapitel für die Farben grün, blau und rot), sondern nach Bereichen, in denen Farben auftreten bzw. gezielt genutzt werden – in der Küche, der Werbung, der Politik etc. In den jeweiligen Gebieten werden sowohl ursprüngliche Zuordnungen, als auch später aufgetretene Bedeutungswandlungen beschrieben – so für das „Schwarzbuch“ (S. 121) oder für die gelbe Schleife (S. 128). Schleifen als Protestzeichen ist ein ebenso spannender Abschnitt, wie die Begründungen für bestimmte Farben in einzelnen Berufen. 

Es werden jedoch nicht nur diese Zuordnungen angesprochen, sondern auch die Erforschung des Spektralfarbendiagramms durch Herrmann von Helmholtz oder das Farbmischungsdreieck von James Clerck Maxwell (S. 315) – dies allerdings in einem Kapitel überschrieben mit „Naive Farbauswahl oder Psychoterror pur? oder: Zwischen Selbstbestimmung und Manipulation“, in dem zumindest die Rezensentin diese naturwissenschaftlichen Erläuterungen nicht vermutet und gesucht hätte. Hier macht sich das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses besonders schmerzhaft bemerkbar. Dafür gibt es jedoch am Schluss Hinweise auf zahlreiche weiterführende Sachbücher zum Thema.

Für die Hallenser Leserschaft interessant dürften auch die zahlreichen Beispiele auf Hallenser geografischen und (Firmen)Namen sein, bei denen Farben eine Rolle spielen.


Joni Seager 

Der Frauenatlas. Ungleichheit verstehen


164 Infografiken und Karten. Carl Hanser Verlag München ISBN 978-3-446-26829-6, 208 S.


Die Autorin ist Professorin für Global Studies an der Bently University in Boston und als Geografin gefragte Expertin für globale Strategien in der Politik. Die ausführlichen Texte und Karten wurden von Renate Weitbrecht und Gabriele Würdinger exzellent übersetzt – so dass nicht nur ein Nachschlagewerk über die Situation von Frauen entstanden ist, sondern „eine feministische Neukartierung der Welt“, so die Autorin in ihrem Vorwort. „Im vergangenen Jahrzehnt erlebten viele Frauen rund um den Globus eine absolute Verschlechterung ihrer Lebensqualität. Verbesserungen in einem Ort sind nicht unbedingt auf andere Orte übertragbar. Wir bleiben eine geteilte Welt“ (S. 8). J. Seager hat zur Veranschaulichung dieser Situation den Weg der Kartierung gewählt, da dies „ein hervorragendes Hilfsmittel sei, um Muster, Kontinuitäten und Gegensätze aufzuzeigen“ (S. 10).

Der Atlas gliedert sich in 9 Bereiche: Frauen in der Welt; Wie Frauen „in ihre Schranken gewiesen werden“; Geburtsrechte; Körperpolitik; Gesundheit; Arbeit; Bildung und Vernetzung; Besitz und Armut; Macht. Die jeweiligen Schwerpunkte werden mit einem kurzen Text eingeleitet, der neben der Begriffserläuterung auch die jeweils genutzten Messinstrumente darstellt. Neben so bekannten Statistiken wie gender gap, Lebenserwartung, rechtlicher Status von Lesben und Schwulen, Sexhandel finden sich viele sonst nur mühsam einzeln zu ermittelnde Sachverhalte wie z.B. Zugang zu Toiletten (selbst in den USA hatten 2015 1,3 Mio Menschen keine kompletten Sanitäreinrichtungen in ihren Haushalten), Frauen bei olympischen Spielen (erst 2016 waren Frauen in allen Sportarten vertreten) u.a.m.

Dabei werden nicht nur Fakten und historische Entwicklungen aufgezeigt, sondern auch die Entwicklung bestimmter Einstellungen – z.B. zum Cybermobbing. Weiterhin werden auch die Fakten „hinter der offiziellen Version“ angegeben – z.B. dass „allgemeines Wahlrecht“ eben nicht wirklich allgemein sei (S. 186) – alles im Kontext der historischen Entwicklung mindestens der letzten 100 Jahre. Gerade diese geschichtlichen Darstellungen erweitern den Blick – so gab es z.B. seit der Gründung der Vereinten Nationen keine Frau als Generalsekretärin.

Das umfangreiche Quellenverzeichnis ermöglicht weiteres Lesen zum jeweiligen Thema – insofern ist dieser Atlas für mich ein Arbeits- und Anschauungsmaterial, das ich nicht mehr missen möchte (im Nachhinein unvorstellbar, wie ich bisher ohne auskommen konnte).


Almut Schnerring,Sascha Verlan 

Equal care. Über Fürsorge und Gesellschaft 


Verbrecher Verlag Hamburg ISBN 978-3-95732-427-6, 159 S.


Die AutorInnen wollen mit diesem Buch dazu einladen, „diese Gesellschaft und ihr Wirtschaftssystem mal aus dem Blickwinkel der Fürsorge zu betrachten“ (S. 10). Zunächst wird der Begriff „care“ analysiert, hat er doch keine genaue deutsche Übersetzung. „Das Wort Pflege wird fast ausschließlich mit der beruflichen Alten- und Krankenpflege assoziiert, Fürsorge klingt nach Wohlfahrtsverband und staatlicher Intervention, Kümmern nach vorgestrigen Rollenklischees und Reproduktionsarbeit nach marxistischem Szenejargon, Haus- und Familienarbeit wiederum klingt nach Staubwedel, Makramee und Pömpel und Sorgearbeit nach einer ungeschickten Neuschöpfung“ (S. 26). Wie alles, was nicht klar umrissen ist, könne diese Arbeit auch nur schwer gemessen werden und tauche daher in entsprechenden Zeitverwendungserhebungen und Untersuchungen nicht auf. 

Zu Recht verweisen die Autorinnen darauf, dass care Arbeit auch ein Bewusstseinsprozess ist und stellen dazu in zwei Exkursen Fragen wie „Wer hat sich im Vorfeld über Geburtsort und Geburtshilfe erkundigt, eine Hebamme gefunden?“ (S. 31) oder: “Wer führt eigentlich Protokoll? Wer stellt Fragen, wer hört zu? Wer kümmert sich um die Geburtstage von KollegInnen?“ (S. 119). Die von ihnen aufgeworfenen und die care Arbeit beschreibenden Fragen ziehen sich durch von der Familienplanung bis zur Betreuung Sterbender – d.h. über das gesamte Leben – das eigene und das anderer. Diese Tätigkeiten (meist von Frauen verrichtet) sind dabei häufig weder plan- noch aufschiebbar (ein Kind oder eine inkontinente zu pflegende Person muss gleich gewickelt werden; bei Fieber müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden etc.). Diese Sorge für andere führt auch zu mehr Achtsamkeit gegenüber sich selbst und den Bedürfnissen des eigenen Körpers bzw. der Seele – dies sei ein wichtiger Grund, so Schnerring/Verlan, warum Frauen im Schnitt 5 Jahre länger als Männer leben. Das heißt, so ihre These, wenn Männer mehr Sorgearbeit übernehmen würden, käme dies letztendlich auch ihrer eigenen Lebenserwartung zu gute. Die Konzentration auf Berufstätigkeit als Lebensinhalt führe bei Männern außerdem nach der Berentung mit zur höheren Suizidrate im Vergleich zu Frauen (S. 55)

Weiterhin verbinden sie die Lösung der sozialen Frage mit der Lösung der ökologischen Frage – beide Bereiche dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Gerade die häufig als Ausweg angesehenen technischen Lösungen hätten den Nachteil, dass sie sowohl in der Produktion als auch im Einsatz viel Energie verbrauchen.

Ein weiterer Aspekt, den die AutorInnen herausarbeiten, ist, dass die Verlagerung von Sorgetätigkeiten überwiegend auf Frauen eine Erziehungsfrage ist, die dringend geändert werden muss – sowohl in der schulischen Bildung (Wiederaufnahme in die Lehrpläne; der italienische Bildungsminister hatte den Vorschlag gemacht, konsequenterweise noch weiter zu gehen und care, Fürsorge insgesamt zum Maßstab schulischer Bildung zu machen), als auch bei der Schaffung entsprechender Vorbilder in den Medien, sowie durch entsprechende Gesetze. Zu Recht prangern sie die kürzere Schonzeit nach der Geburt an, sowie „die unwürdige Diskussion auf EU-Ebene, ob zwei Tage Vaterschaftsurlaub nach der Geburt nicht mehr als genug seinen“(S. 83). Letztendlich setze sich diese Geringschätzung der Arbeit am Lebensanfang auch bei der mangelnden Fürsorge am Lebensende fort.

Weiterhin müsse sauber mit Begriffen gearbeitet werden – das meist gebrauchte Wort „Pflegenotstand“ mache die Pflege zum eigentlichen Problem und entlasse die Krankenkassen, die Unternehmen im Gesundheitssektor und die Politik aus ihrer Verantwortung (S. 93).  Am Ende des Buches finden sich „Wege in eine fürsorgliche Demokratie“.


Gabriele Habinger 

Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationenvon reisenden Europäerinnen im 19. und 20. Jahrhundert. 


Promedia Verlag,Wien 2006, ISBN 3-85371-254-1, 398 S.


Wenn   frau   in   Zeiten   von   Corona   physisch   nicht   reisen   darf   –   versucht   sie   es wenigstens   in   Gedanken   bzw.   beschäftigt   sich   mit   Reiseliteratur.   Bei   meiner   Suche nach   entsprechendem   Schriftt um   fiel   mir   die   schon   vor   einiger   Zeit   als   Buch erschienen Dissertation der österreichischen Autorin Gabriele Habinger in die Hände – sie   hat   Völkerkunde   und   Publizistik   studiert   und   sich   als   Herausgeberin   der   Reihe „Edition   Frauenfahrten“   seit   Jahren   mit   Reisen   von   Frauen,   deren   Historie, besonderen   Blickwinkeln   und   Art   der   anschließenden   Publikation   beschäftigt. Besonderes   Augenmerk   legt   sie   dabei   u.a.   Fremdwahrnehmung,   Rassismus   und Verknüpfung von kolonialen westlichen Diskursen mit Gender-Theorien. Der vorliegende Band untersucht Reisen von Europäerinnen im 19. und angrenzenden Jahrzehnt   in   außereuropäische   Gebiete   –   natürlich   spielen   Österreicherinnen   dabei eine wichtige Rolle, vor allem Ida Pfeiffer. Ausführlich   erläutert   sie   zunächst,   dass   Reisen   zu   dieser   Zeit   „männlich   besetzt“ waren,   was   zu   zahlreichen   Konflikten   führte   –   mussten   Frauen   doch   unterwegs Eigenschaften an den Tag legen, die als typisch männlich galten – und gleichzeitig ihre Weiblichkeit   wahren,   um   nicht   als   „unmoralisch“   in   Verruf   zu   geraten.   Dies widerspiegele sich nicht zuletzt in den von ihnen publizierten Berichten angegebenen Motivationen für ihre Reisen (häufig Glaube als Legitimation, jedoch auch das Anlegen von   naturkundlichen   Sammlungen).   Nichtsdestotrotz   wurde   immer   wieder   versucht, Frauen   von   ihren   Reisen   abzuhalten,   sie   wurden   lächerlich      gemacht   (u.a.   in Karikaturen   –   das   Buch   enthält   dankenswerterweise   nicht   nur   dazu   eine   Reihe   von Beispielen   dafür,   sondern   auch   zur   Kleidung   der   Reisenden,   „Reisemittel“   und Abbildungen der Protagonistinnen und der von ihnen getroffenen Menschen) und ihre Berichte   wurden   angezweifelt.   Weibliche   Mobilität   wurde   ebenso   behindert,   wie weibliche   Bildung.   In   ihren   Analysen   zur   bürgerlichen   Gesellschaft   hierzu   geht   die Autorin   weit   über   das   Thema   Reisen   hinaus   und   schafft   damit   nicht   nur   den notwendigen   Kontext   zur   Einordnung   ihres   Themas,   sondern   zeichnet   auch   ein faszinierendes Bild der damaligen Verhältnisse im scheinbar „aufgeklärten“ Europa. Dass  diese   Frauen   Pionierarbeit   sowohl   in   „Raumaneignung“   (auch   dieses   Konzept wird   ausführlich   erläutert),   Forschung   und   Bildung   ihrer   Gesellschaft   leisteten   zeige sich nicht zuletzt darin, dass sie von ihren  Zeitgenossen als Konkurrenz um knappe Ressourcen   und   Möglichkeiten   betrachtet   wurden.   Allerdings   wäre   es   verkehrt,   die reisenden Europäerinnen als „Ikonen der Frauenbewegung“ zu stilisieren. G. Habinger geht dezidiert der Frage nach, „ob europäische Reiseschriftstellerinnen auf Grund der eigenen Unterdrückungserfahrungen in einer patriarchalen Gesellschaft eher als ihre Kollegen   Solidarität   oder    ́weibliche   Empathie ́   für   Menschen   aufbringen,   die,   wenn auch   in   anderem   Kontext,   ebenfalls   Unterdrückte   sind“   (S.   26).   Sie   verneint   diese Frage       nicht       nur,       sondern       bezeichnet       die       reisenden       Frauen       als Emanzipationsskeptikerinnen (S. 120). Gleichwohl nützten diese vielfach das Stilmittel der Kritik an Zuständen in der Fremde, um europäische Tatsachen und Haltungen zukritisieren. Grundpfeiler und Maßstab bleibt dabei jedoch stets Europa.Das   Buch   insgesamt   ist   eine   Fundgrube   –   nicht   nur   für   Reiseliteratur   aus   einer anderen   Zeit   (dankenswerterweise   werden   die   Protagonistinnen   vielfach   ausführlich zitiert,   so   dass   Neugier   entsteht,   die   kompletten   Texte   zu   lesen),   sondern   auch   für HistorikerInnen, Gender-ForscherInnen, EthnografInnen etc.


Hilde Schmölzer 

Frauenliebe. Berühmte weibliche Liebespaare der Geschichte.


Promedia Verlag Wien 2009, ISBN 978-3-85371-295-5, 266 S.


Ein Buch voller Liebe und Leidenschaft – jedoch auch Eifersucht, Trennung und Schmerz. Die österreichische Journalistin beschreibt nicht nur das Leben von sieben mehr oder weniger bekannten Liebespaaren (teilweise hebt sie damit auch eine der beiden Frauen aus dem Vergessen), sondern gibt zunächst eine kulturgeschichtliche Einführung   in   die   jeweilige   Zeit   und   das   vorherrschende   Verständnis   von Homosexualität.   So   ausführlich   wie   die   Liebesbriefe   der   beiden   Protagonistinnen werden   dazu   ebenfalls   die   zeithistorischen   „wissenschaftlichen“   Auffassungen   zu Frauenliebe   zitiert,   sowie   die   Vorstellungen   von   ZeitgenossInnen   der   jeweiligen Protagonistinnen zu deren Art und Weise des Umgangs miteinander. Eingeleitet wird das Buch mit einem Kapitel zu „Sodomiten, Tribaden, Lesbierinnen“ –allerdings   sind   bis   zur   frühen   Neuzeit   wenig   Originalquellen   erhalten   -   aus unterschiedlichen Gründen: zum einen konnten nur wenige Frauen damals schreiben (und es gibt also schlicht keine eigenen Texte von ihnen), zum anderen kamen sie in der männlich dominierten Wissenschaft als Paare schlicht nicht vor. Insofern beginnt diese Zeitreise mit Bettine Brentano und Karoline von Günderrode. Damals wie heute „bedeutet Lesbisch sein die Verwirklichung einer Alternative zur männlichen Kultur, jetzt allerdings nicht nur im Innenraum privater Freundschaften, sondern ebenso als Ausdruck eines politischen Bewusstseins, das den Frauen im 18. und 19. Jahrhundertverwehrt war“ (S. 15). Dies widerspiegelt sich nicht nur bei diesen beiden, sondern vor allem auch bei George Sand und Marie Dorval, sowie weiteren Paaren. Alle Frauen sind sehr liebevoll abgebildet – ebenso gefühlvoll ausgewählt die von ihnen stammenden Gedichte an die Partnerin, teilweise unter Pseudonym erschienen Text(ausschnitte) und erhalten gebliebenen Beschreibungen von ZeitgenossInnen. Neben der Erläuterung von heute kaum noch bekannten Begriffen (z.B. „Boston-Ehe“) wird auch auf die Entwicklung vor allem der österreichischen Frauenbewegung (im Kapitel   über   Auguste   Fickert   und   Ida   Baumann)   sowie   auf   die  Geschichte   der Sexualforschung   (schließlich   wurde   das   Buch   ja   auch   in   Wien   herausgegeben) eingegangen - und auf die durch häufige Flucht und Auseinandersetzungen mit der Gestapo geprägte  Beziehung von Anna Freud und Dorothy Burlingham.

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